Nach dem Brexit-Votum Aufstieg und Fall der Idee Europa

Brüssel · Der Austritt Großbritanniens erschüttert das innovativste politische Projekt der Nachkriegszeit – die europäische Einigung. Offenbar wurde es eher von Eliten als von normalen Menschen bestimmt.

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Foto: dpa, hcd wst

Der Austritt Großbritanniens erschüttert das innovativste politische Projekt der Nachkriegszeit — die europäische Einigung. Offenbar wurde es eher von Eliten als von normalen Menschen bestimmt.

Die Schriftstellerin Juli Zeh brachte es auf den Punkt. "Die EU ist nicht gerade ein demokratisches Projekt", meinte die überzeugte Europäerin in einer Talkshow. Da hat die Intellektuelle wohl recht. Die Anfänge der europäischen Einigung kamen von Regierungen und Spitzenbeamten. Der zu Alleingängen neigende Altkanzler Konrad Adenauer, der französische Außenminister Robert Schuman und sein Planungschef Jean Monnet, sowie der italienische Ministerpräsident Alcide de Gasperi gelten als Gründungsväter der europäischen Einigung.

Von Parlamenten und Volksbewegungen war nichts zu spüren. Zugleich war das Projekt Adenauers, Schumans und de Gasperis etwas Neues. Die Europäer gehörten bis 1945 zu der Gruppe von Menschen, die weltweit die meisten Kriege führten und die ganze Welt unterworfen hatten. Daraus entstand die Idee, es mit einer Friedensordnung zu versuchen, die Deutschland, den Kriegsgegner der Alliierten, einbinden sollte.

Schumann und Monnet entschieden sich für einen gemeinsamen Markt

Der französische Planungsexperte Monnet entwickelte die Idee eines geeinten Europas konkret. Die einstigen Kriegsgegner Deutschland, Frankreich, Italien und die Benelux-Staaten sollten die Kontrolle über ihre kriegswichtigen Industrien wie Kohle und Stahl an eine europäische Institution abgeben, die als Hohe Behörde in Brüssel eingerichtet wurde. Das gab es noch nie, dass europäische Nationen Kompetenzen in dieser Größenordnung abgaben.

Doch Schumann und Monnet entschieden sich nicht für eine Planungsbehörde für die Montanindustrie, sondern für einen gemeinsamen Markt. Damit war — zum Gefallen der Deutschen — eine Mischung aus überstaatlicher Kontrolle und marktwirtschaftlichen Elementen gefunden. Der Pariser Vertrag (1951) legte die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl fest, es folgten die Atomgemeinschaft und 1957 die Römischen Verträge, die die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) begründeten als gemeinsamen Markt mit überstaatlichen Kontrollinstanzen und einheitlicher Zollgrenze.

Für Adenauer war klar, dass der Bundestag diese Verträge ohne große nationale Debatte abzeichnen sollte. Auch in Frankreich war es schwierig, das Parlament von den europäischen Institutionen zu überzeugen, ehe Präsident Charles de Gaulle mit seiner Politik des "leeren Stuhls" die neue Gemeinschaft vollends in die Krise stürzte. Die Briten waren wegen ihres reinen Freihandelsansatzes ohne Institutionen nicht mit dabei.

"Hast du einen Opa, schick ihn nach Europa"

Klar ist, dass das Einigungswerk eher von politischen Eliten getragen wurde. Die Deutschen warben in der Bevölkerung damit, dass die Aufgabe nationaler Souveränität Deutschland wieder in den Kreis der zivilisierten Nationen führen würde. Bei den Kriegsgegnern in Frankreich, den Benelux-Staaten und Italien argumentierten die Eliten, dass nur so Deutschland keine Gefahr für den Kontinent darstelle. Aus dem Regierungsimpuls wurde dank der breiten wirtschaftlichen Erholung ein gemeinsames Projekt, das die Unterstützung der Bevölkerung erfuhr.

Es war schließlich so attraktiv, dass 1973 Großbritannien, Irland und Dänemark dazukamen. Damit bekannten sich die eher europaskeptischen Briten zur europäischen Idee — und blieben 43 Jahre, bis sie ihren Austritt erklärten. Die Briten pochten aber auf Einstimmigkeit, um nicht an nationaler Souveränität zu verlieren. Zudem dämmerte es den Eliten, dass Europa nicht nur ein Regierungsprojekt sein kann. Es braucht ein stärkeres demokratisches Element, ein eigenes Parlament.

Auch hier waren die Anfänge mühselig. Gern wurden verdiente Politiker dahin abgeschoben. Selbst nach der ersten Direktwahl 1979 hieß es noch "Hast du einen Opa, schick ihn nach Europa". Erst mit dem Vertrag von Lissabon, der 2009 in Kraft trat, hatte das EU-Parlament die volle Mitwirkung an allen Gesetzesvorhaben. Damit war das größte Demokratiedefizit aufgehoben.

EU-Parlament galt vielen nicht als adäquater Ersatz

Seinen Höhepunkt hatte das europäische Einigungsprojekt nach dem Fall des Eisernen Vorhangs. Die früheren kommunistischen Staaten des Warschauer Paktes, die baltischen Staaten, Polen, Tschechien, Slowakei, Ungarn, Bulgarien und Rumänien und mit Slowenien und Kroatien auch zwei Länder des früheren Jugoslawiens wurden in die Europäische Union integriert. Zum ersten Mal schien es, als ob die drei Versprechen Europas in vollem Maße erfüllt würden: Frieden, Demokratie und Wohlstand.

Mitten im größten Triumph zeigten sich Auflösungserscheinungen. Großbritannien stellte sich bei Projekten quer, vor allem gegen den im Maastricht-Vertrag geplanten Euro. Durch das doppelte Mehrheitsprinzip im Vertrag von Lissabon wurde zum ersten Mal das Prinzip der Verantwortlichkeit durchbrochen. Nationale Regierungen, die im Rat überstimmt wurden, konnten nicht mehr für die Entscheidungen verantwortlich gemacht werden. Das EU-Parlament galt vielen nicht als adäquater Ersatz.

Zugleich fingen die neuen Beitrittsländer an, Entscheidungen zu blockieren, demokratische Grundrechte in Frage zu stellen. Die Ebenen begannen zu verschwimmen, während die Brüsseler Bürokratie um immer neue Behörden aufgestockt wurde. "Die bürgerfernen Eurokraten in Brüssel" mussten für alle Übel herhalten. Fast die gesamte wirtschaftliche und ökologische Gesetzgebung wanderte nach Brüssel, die nationalen Parlamente mussten abnicken.

Politischer Aufruhr in Großbritannien

Als die Finanz- und Wirtschaftskrise den Raum des Euro mit voller Wucht traf und vertragswidrige Rettungsaktionen für überschuldete Länder auslöste, begann der Niedergang des europäischen Gedankens. Die EU wirkte wie ein überspanntes Imperium. Die Bürger wandten sich ab, die Wahlbeteiligung zum Europäischen Parlament unterschritt die 50-Prozent-Marke. Der große Schock kam mit dem Austrittsvotum der Briten. Die Statik und die Bedeutung Europas ist zertrümmert. An die Dreier-Balance Deutschland, Frankreich, Großbritannien tritt ein übermächtiges Deutschland und ein schwächelndes Frankreich.

In Großbritannien herrscht politischer Aufruhr, die Einheit des Landes ist in Gefahr, die tragenden Parteien zerlegen sich selbst. Es ist ein Schlag für diese innovative Idee, die die Nachkriegsordnung bestimmte und den Zusammenbruch der kommunistischen Welt meisterte, dann aber über die Spätfolgen einer Finanzkrise, einer unvorhergesehenen Flüchtlingswelle und einem isolationistischen Großbritannien strauchelte. Europa mag sich wieder fangen. Ihre alte Bedeutung und Ausstrahlung hat die europäische Idee erst einmal verloren.

(kes)
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