"Die Einheit ist nicht vollendet" Manuela Schwesig will neuen Soli-Pakt für Ost und West

Berlin · Die Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, Manuela Schwesig, spricht im Interview mit unserer Redaktion über Probleme im Osten, den Umgang mit der AfD und ihre Karrierepläne: Eine Kandidatur als SPD-Vorsitzende schließt sie aus.

Manuela Schwesig – SPD-Frau und Ministerpräsidentin von MV
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Das ist Manuela Schwesig

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Foto: dpa/Jens Büttner

Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsidentin hat zum heutigen Tag der deutschen Einheit besondere Strukturfördermittel für Ostdeutschland auch nach dem Ende des Solidarpakts 2019 gefordert. "Wir haben die politische Aufgabe, dafür zu sorgen, dass der Angleichungsprozess zwischen Ost und West bald geschafft ist", sagte Manuela Schwesig unserer Redaktion. Dies dürfe nicht nochmals "drei Jahrzehnte" dauern. "Wir brauchen deshalb auch in Zukunft eine besondere Förderung für strukturschwache Regionen, künftig allerdings in Ost und West", so die SPD-Politikerin.

Als wir Manuela Schwesig treffen, hat die Ministerpräsidentin Mecklenburg-Vorpommerns Termine im Landtag, der im Schweriner Schloss residiert. Zu DDR-Zeiten war es verfallen, aufwendige Sanierungen gaben ihm Glanz zurück. Zwischen Plenardebatten mit der AfD und Mitarbeitertreffen empfängt Schwesig in einem Besprechungssaal der SPD-Fraktion.

Frau Schwesig, was an Ihnen ist typisch ostdeutsch?

Schwesig Ich fühle mich eher als Gesamtdeutsche mit ostdeutschen Wurzeln. Prägend für mich und meine Generation war, dass wir als Kinder in der DDR aufwuchsen, dann aber sehr bewusst die Wendezeit erlebten. Wir sahen die Schwierigkeiten und Brüche für unsere Eltern, das macht etwas mit einem. Zum Beispiel, dass mir und uns sehr bewusst ist, welches hohe Gut ein Leben in Frieden und Freiheit ist, aber zum Beispiel auch, was Arbeitslosigkeit in der eigenen Familie bedeutet.

Gibt es also einen Unterschied zwischen westdeutscher und ostdeutscher Mentalität?

Schwesig Einiges hat sich abgebaut, anderes besteht weiter. Und jede Generation hat ihre eigenen Erfahrungen. Von uns Ostdeutschen aus der mittleren Generation wurde sehr früh ein eigenständiges, selbst verantwortetes Leben erwartet. Wir mussten eher unseren Eltern helfen, mit der Wende umzugehen. Nicht andersherum. Für mich kann ich sagen: Ich weiß, dass ich die Dinge selbst in die Hand nehmen muss. Ich bin dadurch pragmatisch und zielstrebig geworden und schätze Klarheit.

Kennen Sie noch Ossi-Witze?

Schwesig Ich denke, solche Klischees sind immer weniger geworden über die Jahre. Derlei Witze höre ich kaum noch. Aber viele Ostdeutsche haben das Gefühl, dass die deutsche Einheit noch nicht vollendet ist. Ich auch.

Woran machen Sie das fest?

Schwesig Zum Beispiel daran, dass hier die Löhne trotz gleich guter Arbeit deutlich niedriger sind. Die Menschen in den ostdeutschen Ländern sind deshalb auch bundesweit am wenigsten zufrieden mit ihrem Gehalt, Hinzu kommt, dass etwa der Fahrplan bis zu einer Angleichung der Ost- und West-Renten sehr langfristig ausgerichtet ist. Ostdeutschland hängt in der Wirtschaftskraft und bei den kommunalen Finanzen hinter dem Westen her. Das sorgt für große Probleme.

Was denken Sie über den Begriff "Glücksfall", mit dem die Einheit häufig beschrieben wird?

Schwesig Ich finde, dass dieses Wort nicht richtig zutrifft. Es hing ja nicht von Glück ab, dass die Mauer geöffnet wurde. Das ist dem mutigen Einsatz ostdeutscher Bürger zu verdanken. Die deutsche Einheit ist eine Errungenschaft dieser Menschen, sie haben sich die Freiheit erkämpft. Und zwar ohne Blutvergießen. Wir wissen heute, dass das nicht selbstverständlich ist.

Es dauert weniger als 130 Tage, dann ist die Öffnung der Mauer genauso lange her, wie es sie insgesamt überhaupt gab. Wie lange aber bleibt die ehemalige Teilung noch prägend für die deutsche Seele?

Schwesig Wir haben die politische Aufgabe dafür zu sorgen, dass der Angleichungsprozess zwischen Ost und West bald geschafft ist. Das darf keine weiteren drei Jahrzehnte dauern. Wir müssen am Ziel gleichwertiger Lebensverhältnisse in Ost und West festhalten. Und wir müssen dabei aus Fehlern lernen, die während der Wende gemacht wurden.

Welche Fehler sehen Sie?

Schwesig Etwa, dass die damalige Treuhand Betriebe und Standorte abgewickelt hat, die zu retten gewesen wären und die heute in Ostdeutschland bitter vermisst werden. Investitionen in die vorhandenen Strukturen wären damals deutlich schlauer gewesen, als diese Wirtschaftszweige aufzugeben. Denn die Neuansiedlung ist heute um ein Vielfaches schwieriger.

In der Debatte um Pegida in Dresden und die hohen AfD-Ergebnisse im Osten wurden immer wieder die Unterschiede zwischen Ost und West betont. Fehlt gegenseitiges Verständnis?

Schwesig Probleme, die im Osten sichtbar sind, werden viel zu häufig als typisch ostdeutsch abgestempelt. Das ist ein Fehler und es ist eine Gefahr für ganz Deutschland. Ja, im Osten ist das Ergebnis der AfD insgesamt stärker. Aber es gibt auch viele Regionen im Westen, denen es wirtschaftlich gut geht, wo die AfD trotzdem viel Zustimmung bekam.

Woran liegt es, dass im Osten das AfD- Ergebnis so viel stärker war?

Schwesig In ganz Deutschland gibt es Menschen, die das Gefühl haben, dass sie nicht von der Politik mitgenommen werden. Das ist offensichtlich im Osten stärker ausgeprägt. Wir haben Schwierigkeiten, die Menschen auf dem Land zu erreichen. Weil wir auch Kapazitäten abbauen mussten, wo weniger Menschen leben. Neben der Ost-West-Linie gibt es also große Unterschiede zwischen Städten und Dörfern. Das ist die eigentliche Gefahr. Wir brauchen deshalb auch in Zukunft eine besondere Förderung für strukturschwache Regionen, künftig allerdings in Ost und West.

Im Landtag haben Sie bereits Erfahrung mit der AfD gemacht. Was ist Ihre Empfehlung für den Umgang im Bundestag?

Schwesig Die AfD wird die Debatten im Deutschen Bundestag verändern. Es ist schon etwas anderes, wenn da eine Fraktion im Parlament sitzt, die auf Hass und Hetze setzt. Wir haben die AfD viel zu lange ignoriert. Wir müssen die Rechten inhaltlich stellen und gleichzeitig auf die von uns abgerückten Menschen zugehen. Die wenigsten AfD-Wähler sind jedenfalls rechtsextrem.

Welche Fehler haben Sie als Partei gemacht, dass sich die Menschen zurückgelassen fühlen?

Schwesig Es ist uns jedenfalls nicht ausreichend gelungen, mit unseren Themen durchzudringen. Die Debatte in den Wochen vor der Wahl war sehr stark durch internationale Krisen bestimmt. Jeden Tag regt man sich in Deutschland über einen Tweet des amerikanischen Präsidenten auf. Aber die Alltagsthemen fallen dabei runter. Warum war die Riesenherausforderung Pflege erst ganz zum Schluss ein Thema im Wahlkampf? Weil ein junger Pfleger mit Fragen die Kanzlerin in einem TV-Studio gestellt hat. Wir müssen zuhören und diese Alltagsthemen wieder stärker in die Debatte bringen. Dazu gehört auch das Thema Sicherheit.

Sie wurden im Wahlkampf dafür kritisiert, Ihr Kind an eine Privatschule zu geben. Was sagen Sie zu dem Vorwurf mangelnder Glaubwürdigkeit?

Schwesig Das fällt für mich in die Kategorie Wahlkampf. Da ist manches missverständlich dargestellt worden. Es handelt sich nicht um irgendein Elitegymnasium, sondern um eine Schule in freier Trägerschaft, die eine öffentliche Finanzierung erhält und die zur Schulnetzplanung der Stadt Schwerin und zum Bildungssystem von Mecklenburg-Vorpommern gehört.

Der linke SPD-Flügel forderte eine radikale Kursänderung weg von der Agenda-Politik. Auch das Personal solle erneuert werden. Wie bewerten Sie das und was bedeutet das für die geplanten Konferenzen und den Parteitag?

Schwesig Wir haben eine schwere Wahlniederlage erlitten. Da ist die Frage natürlich berechtigt, an welchen Stellen wir eine Kursänderung brauchen. Wir sollten uns die Zeit für eine gründliche Analyse nehmen. Dafür gibt es die Regionalkonferenzen und den Parteitag. Und ich wünsche mir, dass viele Parteimitglieder sich aktiv an dem Erneuerungsprozess beteiligen, wie zum Beispiel die Initiative SPD++, bei der junge Mitglieder Vorschläge einbringen für neue Strukturen in der Parteiarbeit. So etwas braucht jetzt die Partei.

Ihre Partei hat sich in der Bundestagsfraktion jetzt neu aufgestellt. Warum wagen Sie nicht auch an der Parteispitze einen Neuanfang?

Schwesig Wir brauchen mit Martin Schulz als Parteichef Stabilität in Zeiten des Umbruchs. Er ist der richtige Mann, wenn es darum geht, diese drastische Niederlage aufzuarbeiten. Seit 2005 reden wir davon, jetzt müssen wir es auch wirklich tun. Es ist gleichzeitig wichtig, dass wir mit Andrea Nahles eine schlagkräftige Frau an die Spitze der Fraktion gebracht haben. Ihr zur Seite steht mit Carsten Schneider ein junger aber erfahrener Politiker, der den Osten Deutschlands gut kennt und unsere Partei dort stärken kann. Die SPD muss den Osten stärker in den Blick nehmen. Inhaltlich und personell.

Wo sehen Sie sich dabei?

Schwesig Mit meiner neuen Rolle als Ministerpräsidentin eines ostdeutschen Bundeslandes und als stellvertretende Parteivorsitzende habe ich eine zentrale Position, um zu diesem Ziel beizutragen.

Sie streben nicht den Parteivorsitz beim Parteitag im Dezember an?

Schwesig Nein, diese Frage stellt sich auch gar nicht. Wir haben mit Martin Schulz einen sehr guten Vorsitzenden, der auf dem Parteitag im Dezember wieder kandidiert und meine volle Unterstützung hat.

Und in der Zeit danach?

Schwesig Auch die Frage stellt sich nicht.

Sollte nach Ihrem Dafürhalten jemand aus Ostdeutschland auf die Position des Generalsekretärs folgen?

Schwesig Der Parteichef hat da das erste Vorschlagsrecht und dem will ich nicht vorgreifen.

Nur rund ein Viertel der angetretenen Bundestagskandidaten waren Frauen. Gibt es da auch in Ihrer Partei Probleme?

Schwesig Ich finde es sehr bedauerlich, dass es im gewachsenen Parlament einen geringeren Frauenanteil gibt als zuvor. Die Entwicklung hätte andersherum sein müssen. Das ist vor allem CDU, FDP und AfD anzulasten, weil die auf ihren Listen kaum Frauen hatten.

Sollten die Jamaika-Gespräche platzen, wäre eine große Koalition der einzige Weg um Neuwahlen abzuwenden.

Schwesig Es wird keine große Koalition mit der SPD geben. Die Entscheidung für die Opposition ist ohne Hintertüren getroffen worden. Wir haben die Bundestagswahl verloren. Die Große Koaliton ist abgewählt worden. Unsere Aufgabe ist jetzt die Opposition.

Mit Manuela Schwesig sprach Jan Drebes.

(jd)
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