Interview "Wir senken Langzeitarbeitslosigkeit um ein Drittel"

Der Vize-Chef der Bundesagentur für Arbeit, Heinrich Alt, kündigt im Interview mit unserer Redaktion eine "Generalinventur" der Betreuungsangebote der Job-Center an.

 Heinrich Alt sprach mit unserer Redaktion.

Heinrich Alt sprach mit unserer Redaktion.

Foto: dpa

Hat die Freizügigkeit in Europa mehr Vor- oder mehr Nachteile für den Arbeitsmarkt und die Sozialsysteme?

Alt Eindeutig mehr Vorteile. Unsere Sozialsysteme profitieren, weil in sie mehr Beiträge fließen, als an Leistungen gezahlt werden muss. Auch für das Steuersystem ergibt sich eine positive Bilanz. Allein in diesem Jahr werden wir aus demografischen Gründen 300000 Erwerbspersonen verlieren. Unsere Wirtschaft wäre in einer schwierigen Lage, wenn wir diese Arbeitskräfte nicht ersetzen könnten. Dafür brauchen wir Zuwanderung und steigende Erwerbsbeteiligung bei Frauen und bei Älteren. Die Beschäftigung in Deutschland steigt weiter an. Im Herbst werden wir voraussichtlich die Schwelle von 30 Millionen Beitragszahlern für die Bundesagentur für Arbeit überschreiten.

Gibt es für den ein Auto oder ein anderes tolles Geschenk?

Alt Der millionste Gastarbeiter bekam in den 70er Jahren ein Moped. Wir werden uns etwas einfallen lassen müssen.

Muss die Zuwanderung nach Deutschland noch besser gesteuert werden?

Alt In der EU haben wir ohnehin Freizügigkeit von Menschen und Waren. Neben diesen 28 Staaten sollten wir gezielt Arbeitskräfte anwerben. Gut wäre es, wenn die Anwerbung zu unserem Nutzen und zum Nutzen der Herkunftsländer wäre.

Das ist bei dem Versuch, Jugendlichen aus Südeuropa hier eine Ausbildung zu geben, schief gegangen.

Alt Das ist natürlich nicht einfach, weil solche Programme schwer zu kalkulieren sind. Wenn wir solche Angebote machen, wissen wir nicht, wie viele Interessenten es gibt und welches Sprach- und Qualifikationsniveau sie haben. Wenn die Menschen, die kommen, erst einen Sprachkurs benötigen und Hilfen zur Integration, dann geht es etwas langsamer. Das ist klar.

Muss Deutschland seine Regeln für die Zuwanderung noch verbessern?

Alt Bei der Anerkennung von Berufsabschlüssen könnte ich mir zahlenmäßig deutlich mehr vorstellen, als das was bisher läuft. Es könnten bis zu 250 000 Menschen sein, die eine Anerkennung bekommen. Davon sind wir noch weit entfernt. Zwischen der einheimischen Bevölkerung und gleich gut qualifizierten Zuwanderern besteht zudem zum Teil ein erhebliches Lohngefälle. Auch das müssen wir thematisieren.

Rund 200.000 Asylbewerber kommen dieses Jahr nach Deutschland. Wie sollte man mit ihnen umgehen?

Alt Asylbewerber von der Integration in den Arbeitsmarkt fernzuhalten, ist nicht die beste Idee. Ich halte es für richtig, dass Asylbewerber schon nach drei Monaten Aufenthalt eine Arbeitserlaubnis erhalten. Wir erproben das gerade in sechs Städten. Allerdings darf dies nicht dazu führen, dass Menschen unter der Überschrift politisches Asyl nach Deutschland kommen, eigentlich aber einen Job suchen. Asyl ist in erster Linie die Gewährung von Schutz und nicht dafür gedacht, Arbeitskräfte für Deutschland zu gewinnen.

Die Konjunktur brummt und trotzdem ist die Langzeitarbeitslosigkeit seit 2012 sogar gestiegen. Wie erklären Sie sich das?

Alt Wir haben in den letzten Jahren über 200000 öffentlich geförderte Beschäftigungsmöglichkeiten abgebaut. Tatsächlich ist die Langzeitarbeitslosigkeit also gesunken, nicht gestiegen. Darauf können wir uns aber nicht ausruhen: Wir brauchen vor dem Übergang in die Langzeitarbeitslosigkeit gemeinsam mit dem Betroffenen eine Art Generalinventur als. Wir müssen bei jedem Einzelnen noch genauer hinschauen, warum die Integration in den Arbeitsmarkt bislang nicht funktioniert hat, um passendere Angebote machen zu können. Wir müssen in Frage stellen, ob wir die richtigen Ansätze verfolgen, um Langzeitarbeitslose in den ersten Arbeitsmarkt zu integrieren. Wir integrieren nur 20 Prozent der Langzeitarbeitslosen mit unseren klassischen Programmen in den Arbeitsmarkt. Das reicht mir nicht. Wir brauchen neben diesen Programmen noch andere Ansätze: Mehr individuelle Beratung, intensivere Kontakte zu Arbeitgebern um beispielsweise mehr Probe-Arbeitsverhältnisse zu initiieren.

Wie stark können Sie die Zahl der Langzeitarbeitslosen in dieser Legislaturperiode reduzieren?

Alt Die Kolleginnen und Kollegen in den Jobcentern haben ja in der Vergangenheit bereits viel erreicht. Ich würde uns aber zutrauen, die derzeit eine Million Langzeitarbeitslosen in dieser Legislaturperiode um ein Drittel zu reduzieren. Mit höherer Professionalität in der Beratung, bessere Integrationsarbeit durch mehr Arbeitgebernähe, mehr Prävention, intelligenteren Einsatz der Arbeitsmarktinstrumente, durch eine bessere Einbindung sozialer Dienste der Kommunen und eine stärkere Einbeziehung der Zivilgesellschaft bekommen wir das hin. Vorausgesetzt natürlich, die gute Lage am Arbeitsmarkt hält weiter an.

Wie entwickelt sich die Erwerbstätigkeit bei den Älteren?

Alt Wir haben steigende Erwerbsquoten bei Älteren. Erstmals seit 1974 haben wir bei den 60-bis 65Jährigen wieder mehr Erwerbstätige. Sogar bei den über 65-Jährigen sehen wir einen erfreulichen Aufwärtstrend: Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, die 65 und älter sind, ist innerhalb von 14 Jahren um über 100000 auf heute 190000 gestiegen. Ich schließe mich denen an die sagen, wir sollten künftig kein festes Renteneintrittsalter mehr definieren. Warum sollte ein Anwalt noch mit 75 arbeiten können, aber ein angestellter Jurist muss mit 65 gehen? Jeder sollte solange arbeiten können, wie er und sein Arbeitgeber Spaß daran haben und man natürlich gesundheitlich in der Lage ist.

Wie wirkt der Mindestlohn auf die Langzeitarbeitslosigkeit?

Alt Wir rechnen nicht mit nennenswerten negativen Folgen durch den Mindestlohn. Unsere Aufgabe ist dafür zu sorgen, die Produktivität der Langzeitarbeitslosen zum Beispiel durch Qualifizierung so zu erhöhen. dass sie den Mindestlohn auch erwirtschaften können. Kein Arbeitgeber stellt jemanden für 8,50 Euro ein, wenn er ihm nur sieben Euro bringt.

Wieso hat der Mindestlohn dann aus Sicht der BA keine negativen Beschäftigungseffekte?

Alt Weil die Erfahrungen zeigen, dass die Branchen-Mindestlöhne keine gravierenden negativen Effekte auf die Beschäftigung in den betreffenden Branchen hatten. Wir wissen natürlich nicht, welche Jobs nicht entstanden sind durch die Mindestlöhne.

Ist die Altersgrenze von 18 richtig beim Mindestlohn?

Alt Das durchschnittliche Ausbildungseintrittsalter liegt derzeit bei 20 Jahren. Wir haben in den Jahren, in denen es mehr Bewerber als Ausbildungsplätze gab, einen Puffer zwischen Schule und Lehre aufgebaut, den wir in Zukunft deutlich reduzieren müssen. Wir müssen Jugendliche schneller in das Ausbildungssystem integrieren und auf Umwege verzichten. Es sollte keine Wartezone mehr zwischen Schulende und Ausbildungsbeginn geben. Mit 18 Jahren werden wir auf der richtigen Linie liegen.

(mar)
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