Ralf Kleber, Deutschland-Chef von Amazon Preise können mehrmals am Tag wechseln

München · Seit 1999 ist Ralf Kleber Deutschland-Chef von Online-Händler Amazon. Im Interview spricht er über neue Projekte, Amazon-Gründer Jeff Bezos und die Zukunft des Internets.

 Ralf Kleber ist Deutschland-Chef des Online-Händlers Amazon.

Ralf Kleber ist Deutschland-Chef des Online-Händlers Amazon.

Foto: imago

Amazon ist für Kunden ein Paradies und für Mitarbeiter die Hölle. Zumindest ist dies oft das Bild, das vom Handelskonzern öffentlich gezeichnet wird — zum Beispiel von der Gewerkschaft Verdi, die den US-Konzern seit Jahren bestreikt. Ralf Kleber will zu den Horrorgeschichten nicht recht passen: Pullover, freundliches Lächeln, pfälzischer Zungenschlag. Auf den ersten Blick eher netter Nachbar als harter Hund. Seit 16 Jahren leitet er das Deutschland-Geschäft — die rasante Entwicklung, die Amazon genommen hat, ist also eng mit ihm verbunden.

Als Sie 1999 bei Amazon angefangen haben, war Google gerade ein Jahr alt. Was haben Sie damals über die Zukunft des Internets gedacht?

Ralf Kleber (lacht) An mobiles Surfen haben wir damals jedenfalls nicht gedacht. Damals gab es in Deutschland 3,5 Millionen Internetnutzer mit PC — und wir mussten erst einmal überlegen, wie wir hier mit unserem Online-Buchhandel für die Menschen relevant werden. Allerdings hatte Jeff . . .

...Amazon-Gründer Jeff Bezos . . .

Kleber ...damals schon weiter gedacht. Seine Botschaft war immer: Wir werden versuchen, alles online anzubieten, was unseren Kunden einen Mehrwert bringt. Zunächst ging es dabei um Online-Shopping. Irgendwann kam digitaler Content hinzu, also E-Books, dann Videos und natürlich das Cloud-Geschäft, bei dem Kunden in Rechenzentren Daten speichern.

Das bieten viele andere auch an.

Kleber Aber niemand alles auf einmal. Uns hält das Bewusstsein geschmeidig, dass sich Unternehmen grundlegend verändern müssen, wenn die Kunden dies auch tun. Von mir und den Mitarbeitern von Amazon wird erwartet, dass wir nie zufrieden sind. Wir müssen uns immer fragen: Geht es einfacher? Denn Einfachheit generiert Gewohnheiten.

Sie wollen die Leute umerziehen?

Kleber Im Gegenteil. Wir wollen für den Kunden wichtig sein. Als wir gestartet sind, hat keiner auf den nächsten Laden gewartet. Also ging es darum, wie wir Menschen einen Mehrwert bieten, den bis dato noch keiner angeboten hat, der sie dazu bewegt, dass sie aus einer tief verankerten Gewohnheit ausbrechen. Unser Ziel ist es, alle Produkte auf der ganzen Welt online verfügbar zu machen. Wenn du als Laden alles hast, wirst du für Kunden relevant.

Lebensmittel gibt es bei Ihnen bislang kaum.

Kleber Daran arbeiten wir. Der Lebensmittelbereich ist so groß, dass wir überlegen mussten, wo wir anfangen. Also haben wir beispielsweise gesagt: Wir bauen zunächst erstmal Deutschlands größtes Nudelregal. Kein Supermarkt hat alle Nudelsorten — sobald der Kunde also weiß, dass er bei Amazon alle findet, hat er einen Grund, mit seinen Gewohnheiten zu brechen. Heute gibt es bei uns rund 10.000 Nudelsorten.

Ihr Team in Deutschland wird aber ja nicht nur Nudel-Sorten zusammentragen.

Kleber Wir entwickeln global und versuchen immer, einen Standard zu schaffen, der für alle Märkte funktioniert. Die Kunden in Japan, Mexiko oder Österreich wollen ihre Lieferungen genauso wie unsere Kunden in Deutschland immer schneller. Hier fangen die Unterschiede auch schon an: Für den amerikanischen Kunden war die Reduzierung von sechs bis acht Tagen Lieferzeit auf zwei bis drei Tage vor einigen Jahren eine Sensation. Für den deutschen Kunden wäre das nicht akzeptabel. Die Feinjustierung des globalen Gedankens übernehmen daher die lokalen Teams.

Wie sehr lässt sich die Lieferzeit denn noch steigern?

Kleber Aktuell sind wir bei einer Stunde im Stadtgebiet Manhattan. In Deutschland dauert es noch etwas länger. Da bekommen Kunden ihre Ware in den urbanen Zentren bestenfalls in sechs bis sieben Stunden. Natürlich lässt sich das steigern. Zwar braucht der Kunde nicht immer alles innerhalb einer Stunde — aber wenn er es braucht, musst man als Online-Händler einen Service haben, der es ihm so schnell liefert. Andernfalls verliert man langfristig.

Was ist dafür nötig?

Kleber Wir müssen dafür sorgen, dass in den Versandzentren die Dinge liegen, von denen wir glauben, dass der Kunde sie vermutlich bestellen wird. Dafür brauchen wir sehr technisches Knowhow.

Und das entwickelt Amazon in dem Tech-Hub in Berlin?

Kleber Die Teams befassen sich mit der Frage, durch welche Daten sich die Genauigkeit unserer Prognosen erhöht. Eine Frage ist zum Beispiel: Wie viele rote T-Shirts verkaufe ich nächstes Jahr im April? Als ich früher bei Kaufhof gearbeitet habe, war dafür der Abteilungsleiter zuständig. Der konnte nur ahnen, wie das Wetter wird und vermuten, dass Rot dann noch eine Trendfarbe ist. Kurzum: Es ist extrem schwierig. Heute werden für die Entscheidung beispielsweise langfristige Wetterprognosen hinzugezogen, um bei der Vorratshaltung die Treffergenauigkeit zu erhöhen.

Für den gesamten Markt oder auch für die einzelne Person?

Kleber Für den einzelnen Kunden, aber immer völlig anonym. Wir wollen nicht vorhersagen, wie viel Frau Meier nächstes Jahr kauft. Wir wollen nur wissen, wie viel wir im Lager haben müssen, damit wir die voraussichtlichen Wünsche von Frau Meier und anderen schnell erfüllen können. Und wenn die Kunden dann wirklich diese Ware kaufen, kann auch ihr Verhalten wiederum dazu beitragen, dass unsere Prognosen für das nächste Jahr noch besser werden.

Können Sie voraussagen, was das beliebteste Weihnachtsgeschenk wird?

Kleber Vinyl ist diesmal ein Spitzenthema. Als wir 1999 den Musikbereich gelauncht haben, haben wir gesagt: Wir brauchen keine Platten mehr. Heute haben wir 1,4 Millionen Vinyl-Platten im Angebot, um auf diesen Trend reagieren zu können. Ich glaube, es wird einiges an Vinyl und Schallplattenspielern unter den Weihnachtsbäumen liegen.

Zu Weihnachten könnte es wieder Streiks bei Ihnen geben. Hoffen Sie eigentlich darauf, dass Verdi irgendwann aufgibt, oder gibt es irgendwann eine Lösung?

Kleber Wir zeigen Tag für Tag, dass man auch ohne Tarifvertrag ein fairer und verantwortungsvoller Arbeitgeber sein kann. In unserer sehr offenen Unternehmenskultur sprechen wir permanent direkt mit Mitarbeitern und Betriebsräten. Dabei sehen wir wieder und wieder: Bei uns funktioniert diese unmittelbare Kooperation für alle Seiten am besten — Arbeitnehmer und Kunden. Im Übrigen streikt nur eine kleine Minderheit der Mitarbeiter.

Finden Sie eigentlich, dass Gewerkschaften noch gebraucht werden?

Kleber Das ist eine gesellschaftspolitische Frage. Wir diskutieren intern nicht über die Rolle von Gewerkschaften, sondern vor allem über die Frage, wie wir mit unseren Mitarbeitern umgehen. Wir haben in allen deutschen Logistikstandorten gewählte Betriebsräte mit denen wir sehr eng zusammenarbeiten. Ich wüsste deshalb nicht, warum wir dafür einen weiteren Berater brauchen.

Nun überlegen Sie, Flüchtlinge in Ihren Versandzentren einzusetzen. Wie ist da der aktuelle Stand?

Kleber Wir haben den Arbeitsagenturen frühzeitig signalisiert, dass wir Flüchtlinge bei entsprechender Qualifikation gerne bei uns arbeiten lassen würden. Dafür müssen allerdings die rechtlichen Voraussetzungen stimmen. Wir haben standardisierte Tests und Arbeitsverfahren, die es jedem ermöglichen, ohne Vorkenntnisse bei uns zu arbeiten. Wir sind auch bereit, bei der Integration zu helfen, ein Beispiel könnte Deutschunterricht sein. Aber hier ist zunächst der Gesetzgeber gefragt. Im Übrigen arbeiten schon jetzt Menschen aus über 100 Nationen in unseren Logistikzentren.

Zuletzt gab es Berichte, dass Ihre Datenanalysen ergeben haben, dass Leute mit Apple-Geräten mehr Geld haben. Deshalb sollen Sie von diesen höhere Preise verlangen.

Kleber (lacht) Das ist absoluter Schmarrn.

Also ein Preis für alle?

Kleber Wir passen uns natürlich im dynamischen Umfeld an. Und viele andere Händler orientieren sich an unseren Preisen. Im Internet ist es heutzutage sehr einfach herauszufinden, was ein Produkt kostet. Dieser Transparenz entziehen wir uns nicht. Wenn wir das Gefühl haben, es entwickelt sich für den Kunden ein neuer Marktpreis, und das kann bei manchen Produkten mehrmals am Tag sein, reagieren wir darauf. Preise gehen rauf und runter — aber wir sagen es dem Kunden. Und zwar allen gleichzeitig. Was es nicht gibt, sind unterschiedliche Preise für ein und dasselbe Produkt auf unterschiedlichen Endgeräten.

Viele Händler leiden unter dem Preiskampf im Internet.

Kleber Kunden lieben Vielfalt — und das Internet bietet unbegrenzte Lager- und Präsentationsflächen. Für uns, aber auch für andere Händler. Es ist kein reiner Verdrängungswettbewerb. Es gibt eine Demokratisierung des Handels — jeder kann mit wenigen Klicks online verkaufen. Das heißt aber nicht, dass ich an eine Welt des reinen Online-Shoppings glaube.

Sondern?

Kleber Ich liebe Läden. Und ich besuche sie gerne. Dort kann man unheimlich viel lernen was man nicht vergessen darf, wenn man im Internet erfolgreich sein will. Zum Beispiel das Gefühl, wie es ist, wenn man zum ersten Mal seinen eigenen Laden aufschließt.

Kaufen Sie denn selbst noch im stationären Handel — zum Beispiel Weihnachtsgeschenke?

Kleber Vieles. Ich zwinge mich nicht, mit meinen Gewohnheiten zu brechen und deswegen alles bei Amazon zu kaufen. Ich mache das, was unsere Kunden auch machen. Ich genieße die Vielfalt.

DAS GESPRÄCH FÜHRTE FLORIAN RINKE.

(frin)
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