Versorger ziehen vor Bundesverfassungsgericht War der Atomausstieg eine Enteignung?

Karlsruhe · Das Bundesverfassungsgericht verhandelt an diesem Dienstag und Mittwoch die Klagen großer Energiekonzerne gegen den deutschen Atomausstieg. Es geht um Schadenersatz in Milliardenhöhe.

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Fünf Jahre nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima haben die Karlsruher Richter zu prüfen, ob die Bundesregierung mit ihrer Kehrtwende in der Energiepolitik 2011 Grundrechte verletzt hat. (Az. 1 BvR 2821/11, 1 BvR 321/12 und 1 BvR 1456/12)

Deutschlands größte Energieunternehmen Eon und RWE sowie der schwedische Staatskonzern Vattenfall sprechen von einer Enteignung und wollen dafür Entschädigung. Der vierte große Versorger EnBW teilt nach eigener Darstellung diese Rechtsauffassung, klagt aber nicht selbst, weil er zu mehr als 98 Prozent in öffentlicher Hand ist.

Unter dem Eindruck der Ereignisse in Japan hatte die schwarz-gelbe Koalition 2011 die Laufzeitverlängerung aus dem Vorjahr rückgängig gemacht. Im Atomgesetz schrieben Union und FDP den Konzernen vor, zu welchen Terminen bis spätestens 2022 sie ihre 17 Meiler vom Netz nehmen müssen.

Sollte der erste Senat unter Vize-Gerichtspräsident Ferdinand Kirchhof den Unternehmen Recht geben, könnten sie im zweiten Schritt auf Schadensersatz klagen. Allerdings verhandeln die Konzerne derzeit mit der Bundesregierung über die Verteilung der gewaltigen Kosten und Risiken beim Abriss der Kraftwerke und der Lagerung des Atommülls.
Für ein Entgegenkommen verlangt Berlin die Rücknahme aller Klagen. Es ist also nicht ausgeschlossen, dass es zu einer außergerichtlichen Einigung kommt. Bis zu einem Urteil dürften Monate vergehen.

Gegen den Atomausstieg laufen bundesweit um die zwei Dutzend weitere Klagen, die sich gegen das Moratorium unmittelbar nach dem GAU in Fukushima richten. Zur "Gefahrenabwehr" wurden acht vorwiegend ältere Blöcke damals für drei Monate stillgelegt. Vattenfall klagt außerdem vor einem Schiedsgericht in den USA auf 4,7 Milliarden Euro Schadensersatz. Dort soll im Herbst 2016 verhandelt werden.

Dafür braucht es einen kurzen Blick zurück ins Frühjahr 2011. Die Welt schaut voller Entsetzen auf das japanische Fukushima, wo nach Erdbeben und Tsunami vom 11. März ein Atomkraftwerk außer Kontrolle gerät. Die Ereignisse führen die Risiken der Kernkraft neu vor Augen. Wenige Monate zuvor haben Union und FDP den rot-grünen Atomausstieg bis zum Jahr 2036 gestreckt. Schnell ist klar: So eine Energiepolitik ist kurz vor wichtigen Landtagswahlen nicht mehr opportun. In Windeseile erfindet sich Schwarz-Gelb neu - als Anti-Atom-Koalition.

Sieben ältere Blöcke und das als "Pannenmeiler" verschrieene AKW Krümmel in Schleswig-Holstein müssen per Moratorium sofort für drei Monate vom Netz. Eine Änderung des Atomgesetzes zum 31. Juli 2011 besiegelt ihr endgültiges Aus. Den restlichen neun Kraftwerken setzt der Gesetzgeber über elf Jahre gestaffelt feste Deadlines, zu denen die Betriebsgenehmigung erlischt. Damit ist der Atomausstieg bis 2022 beschlossene Sache. Heute gibt es bundesweit noch acht aktive Meiler. Deutschlands größte Energiekonzerne Eon und RWE hat die erzwungene Energiewende in massive wirtschaftliche Schwierigkeiten gestürzt.

Die ziehen dutzendfach mit Schadensersatzforderungen vor Gericht - und haben dabei keine schlechten Karten. Denn bei der Hauruck-Aktion gibt es juristische Grauzonen. So erklärt Anfang 2013 der hessische Verwaltungsgerichtshof in einem vom Bundesverwaltungsgericht bestätigten Urteil die sofortige Abschaltung von Biblis A und B für rechtswidrig - unter anderem weil RWE vor der Entscheidung nicht ordnungsgemäß angehört wurde. Ob das auch hohe Entschädigungssummen bedeutet, müssen im Einzelfall die Gerichte entscheiden. Die Grundsatzklagen werden aber erst jetzt in Karlsruhe verhandelt.

Eon, RWE und der schwedische Staatskonzern Vattenfall werten den vorzeitigen Atomausstieg als Enteignung. Sie wollen feststellen lassen, dass ihnen laut Grundgesetz vom Staat eine Entschädigung zusteht. "Die Klärung dieser Rechtsfrage ist für uns ein fundamentaler Sachverhalt", sagt Matthias Hartung, Chef der RWE-Erzeugungstochter RWE Generation. Denn sollten die Konzerne Recht bekommen, wäre der Weg frei für Schadensersatzklagen im zweistelligen Milliardenbereich. Momentan ist allerdings völlig unklar, ob es dazu jemals kommt.

Warum das?

Die Konzerne haben ihre Klagen vor Jahren eingereicht, seither ist viel passiert. Aktuell dreht sich alles um die Frage, wer die enormen Kosten für den Rückbau der Meiler und die Lagerung des Atommülls schultern muss - nach Schätzungen von Experten mindestens 48,8 Milliarden Euro. Seit Wochen wird in Berlin in einer Kommission verhandelt. Der Staat könnte den Versorgern bei der Übernahme gewisser Endlagerungs-Risiken entgegenkommen. Aber das hat seinen Preis: Im Gegenzug sollen die Konzerne ihre vielen Klagen fallen lassen. Das Karlsruher Verfahren ist also Verhandlungsmasse geworden.

Im Prinzip kann eine Verfassungsklage jederzeit zurückgenommen werden, selbst nach einer aufwendigen zweitägigen Verhandlung. Es gibt aber auch Beispiele für Fälle, die Karlsruhe trotzdem einfach entschieden hat: 1998 erklärte der erste Senat die umstrittene Rechtschreibreform für rechtens, obwohl die Kläger einen Rückzieher machten - unter Verweis auf die allgemeine Bedeutung der Frage. Deals in Berlin dürften die Richter wenig beeindrucken. Allerdings müssten die Konzerne festgestellte Ansprüche natürlich nicht einfordern.

Die Restlaufenzeiten der noch in Betrieb befindlichen Reaktoren:

BADEN-WÜRTTEMBERG:
Neckarwestheim II EnBW 1989-2022; Philippsburg II EnBW 1984-2019

BAYERN:
Isar II Eon 1988-2022, Gundremmingen B RWE/Eon 1984-2017, Gundremmingen C RWE/Eon 1984-2021

NIEDERSACHSEN:
Grohnde Eon 1984-2021, Emsland RWE/Eon 1988-2022

SCHLESWIG-HOLSTEIN:
Brokdorf Eon/Vattenfall 1986-2021

(felt/dpa)
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