Bonn Spielen für die Forschung war sein Leben

Bonn · Reinhard Selten war Deutschlands bislang einziger Wirtschafts-Nobelpreisträger. Im Alter von 85 Jahren ist er nun gestorben.

Reinhard Selten ist tot: Spielen für die Forschung war sein Leben
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Privat hat er nie gespielt, die Regeln beim Skat seien ihm zu kompliziert, hat Reinhard Selten mal gesagt. Doch im Beruf hat es der in Bonn lebende Mathematiker und Ökonom mit Spielen ganz weit gebracht: 1994 erhielt er für seine Arbeiten zur Spieltheorie den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften - als bisher einziger Deutscher. Nun ist Selten im polnischen Posen gestorben, wie die Universität Bonn gestern mitteilte. Damit geht ein ganz ungewöhnliches Forscher-Leben zu Ende.

Es war kein einfacher Weg, den der im Oktober 1930 in Breslau geborene Selten bis zum Wissenschaftsolymp hinter sich gebracht hat. Der Vater war ein jüdischer Unternehmer, der mit nur dreijähriger schulischer Bildung einen Buchladen und einen Lesezirkel betrieb: Zeitschriften wurden gegen Geld verliehen, je neuer das Datum, desto höher die Leihgebühr. Selten, dessen Mutter Protestantin war, bekam als Halbjude früh die Repressalien des Hitler-Regimes zu spüren. Mit 14 warf man ihn von der Schule.

Nach dem Krieg verschlug es ihn in die hessische Provinz. Dreieinhalb Stunden brauchte der junge Selten Ende der 40er Jahre für seinen Weg zur Schule. Eine lange Strecke - besonders für einen Jugendlichen. Statt in dieser Zeit einfach seine Gedanken schweifen zu lassen, beschäftigte sich der Schüler mit mathematischen Problemen der elementaren Geometrie oder Algebra.

Kein Wunder, dass er später Mathematik studierte. Er brauchte Jahre bis zum Diplom, weil er sich für alles Mögliche - Astrologie, Psychologie und Physik - interessierte. Doch seine eigentliche wissenschaftliche Liebe und den Grundstein für seinen Erfolg entdeckte er in einem Aufsatz im "Fortune Magazine" über Spieltheorie. Selten war Feuer und Flamme, beschäftigte sich auch in seiner Abschlussarbeit mit dieser Frage zwischen Mathematik und Wirtschaftswissenschaften - und hatte sein Lebensthema gefunden.

In der Spieltheorie geht es darum, die Entscheidungen von Akteuren mit Hilfe mathematischer Modelle abzubilden. Hochkomplex, aber ungemein spannend. Den entscheidenden Aufsatz lieferte Selten im Jahre 1965, als er die Theorie seines Kollegen John Nash fortentwickelte. Die Botschaft: Wenn alle rational handeln, gibt es ein strategisches Gleichgewicht. Stellt sich das ein, kann kein Spieler mehr einen Vorteil erzielen, indem er seine Strategie ändert. Ökonomen sprechen von "Teilspielperfektheit".

Für diese Arbeit bekamen Nash, Selten und der Ungar John Harsanyi 1994 den Nobelpreis für Ökonomie. Und Selten wäre nicht Selten, hätte er davon erstmal gar nichts mitbekommen. Er war beim Einkaufen, als das Nobel-Komittee seine Entscheidung verkündet. Reporter vor seinem Haus informierten ihn.

Doch als ihm der Preis verliehen wurde, hatte Selten längst eine radikale Kehrtwende vollzogen. Seine Theorie basierte noch auf der wesentlichen Annahme von rational handelnden Akteuren. In seinen Experimenten, die er als einer der ersten Ökonomen durchführte, zeigt er dagegen immer wieder, dass der Mensch eben kein "Homo oeconomicus" ist, der rational entscheidet, sondern sich von vielen anderen Faktoren leiten lässt.

Auch damit war Selten ein Pionier, und das nicht nur in Deutschland. Aus seinen Ausflügen in die Psychologie waren ihm Experimente vertraut. Ausgerechnet er, der große Theoretiker, wandte sich der realen Welt zu. Selten führte Experimente in die Wirtschaftswissenschaften ein. In der früheren Hauptstadt, wohin ihn die Uni Bielefeld vertrieben hatte, baute er das Bonn Econ Lab auf, ein Laboratorium für experimentelle Wirtschaftsforschung, an dem er auch nach seiner Emeritierung aktiv tätig war. Dort ließen er und seine Assistenten Zehntausende Studenten und andere Probanden um Geld, Schokolade und Ehre spielen, um herauszufinden, wie sich Menschen etwa bei Tarifverhandlungen, Preispokern und verbotenen Kartellabsprachen verhalten.

Zu den zentralen Erkenntnissen der experimentellen Wirtschaftsforschung zählen heute Sätze wie: Akteure überschätzen meist sich selbst und unterschätzen ihre Konkurrenten. Darum versuchen zum Beispiel Anleger immer wieder, den Markt zu schlagen, obwohl sie auf lange Sicht durch den Kauf einzelner Aktien nie besser abschneiden werden als der Markt, also der Dax. Menschen schätzen den Wert eines Gutes, das sie besitzen, höher ein als den eines Gutes, das sie nicht besitzen. Schlimmer als gleiche Armut für alle gilt vielen Menschen Ungleichheit. Und: Längst nicht immer geht es den Menschen um den höchstmöglichen Gewinn, sondern auch um Fairness und Achtung in der Gesellschaft, was bislang in den ökonomischen Modellen keine Rolle gespielt hatte. Oft ist Ökonomie mehr als ein Nullsummenspiel.

"Die Wirtschaftswissenschaft hat Herrn Selten grandiose Antworten und wichtige Fragen in der Spieltheorie und Verhaltenswissenschaft zu verdanken, die die Forschung noch für Jahrzehnte beschäftigen werden", sagte der Kölner Ökonom Axel Ockenfels, einer von Seltens Schülern, der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung".

Sein Leben ist zugleich bunt an Anekdoten. Mit seiner Frau sprach er gerne Esperanto, die internationale Kunstsprache, die viele Intelektuelle begeisterte. Er liebte Wanderungen im Siebengebirge. Nun hat der große Ökonom seine letzte Wanderung angetreten.

(RP)
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