Interview mit dem EU-Energiekommissar Oettinger: Noch in 40 Jahren Atomstrom in Deutschland

Düsseldorf · Der deutsche EU-Energiekommissar Günther Oettinger spricht im Interview mit unserer Redaktion über die Konsequenzen der Energiewende und die Zukunft des Atomstroms in Deutschland, über intelligente Verfahren zum Stromsparen und die Zukunft des Fracking-Verfahrens in Deutschland.

EU-Energiekommissar Günther Oettinger glaubt, dass auch noch in 40 Jahren Atomstrom in deutschen Leitungen fließt.

EU-Energiekommissar Günther Oettinger glaubt, dass auch noch in 40 Jahren Atomstrom in deutschen Leitungen fließt.

Foto: dpa, Tobias Hase

Im nächsten Jahr wird der Strom deutlich teurer: Über 700 Stromversorger heben die Preise um bis zu 20 Prozent an. Wieviel Energiewende vertragen die Deutschen noch?

Oettinger: Die deutschen Strompreise sind heute schon an der oberen Grenze des Vertretbaren angekommen. Gleichzeitig ist absehbar, dass die Kosten für Energie weiter steigen. Es wird demnächst auch in Deutschland viele Haushalte geben, die ihren Strom nicht mehr bezahlen können. Da Strom aber wie Brot und Wasser zum menschlichen Grundbedarf gehört, wird der Staat diesen Haushalten helfen müssen.

Schlagen Sie Stromgutscheine für Arme vor?

Oettinger: Die Sozialleistungen müssen den Kostensteigerungen bei Öl, Gas und Strom angepasst werden. Der angemessene Zugang zu Energie ist in Europa ein Grundrecht.

Wie teuer wird der Strom denn noch?

Oettinger Innerhalb der nächsten fünf Jahre wird der Strompreis deutlich schneller als die Inflation steigen. Real haben wir es also noch mindestens fünf Jahre lang mit steigenden Stromkosten zu tun.

Warum?

Oettinger Die Energiewende ist in erster Linie eine Stromwende. Es gab in Deutschland einen breiten Konsens zum Ausstieg aus der Atomenergie. Das ist ja auch der einfachere Teil der Übung. Jetzt kommt der schwierigere Teil: Wir müssen den Atomstrom ersetzen. Der Ausbau regerenerativer Energien besteht aber aus viel mehr als nur aus ein paar zusätzlichen Windrädern und Sonnenkollektoren. Er setzt auch eine völlig neue Infrastruktur voraus, mit der diese stark schwankenden neuen Strommengen transportiert und gespeichert werden können. Das kostet Milliarden.

Jeder Vierte in Deutschland ist unzufrieden mit der Umsetzung der Energiewende. Macht die Politik Fehler?

Oettinger Die Politik muss vor allem ehrlich sein und sagen: Energie wird teurer. Und sie muss zugleich klar machen: Unnötige Kosten, wie sie in Deutschland zum Beispiel durch die inzwischen zu starke Förderung von Photovoltaik-Anlagen entstehen, werden vermieden. Diese Förderung hat als Anschubfinanzierung für eine damals noch ganz neue Technologie gut funktioniert, ist inzwischen aber aus dem Ruder gelaufen und nicht mehr zeitgemäß.

Gehört die Solarförderung verboten?

Oettinger Nein. Aber die Förderung von Photovoltaik-Anlagen sollte gekoppelt werden an das Entstehen neuer Leitungs- und Speicherkapazitäten. Wir sollten nur soviel Sonnenstrom fördern, wie wir entweder verbrauchen oder speichern können. Dasselbe gilt übrigens auch für die Windkraft.

Gefährdet die Energiewende die Wiederwahl von Bundeskanzlerin Angela Merkel?

Oettinger Die Kanzlerin verkörpert mit großer Glaubwürdigkeit, dass sie in der Lage ist, aus der Vielzahl von energiepolitischen Detaildiskussionen in Deutschland ein schlüssiges Gesamtkonzept zu entwickeln. Die Energiepolitik ist kein Malus der Bundesregierung. Ob daraus bis zur Bundestagswahl im Herbst ein Bonus wird, muss sich zeigen.

Welche Rolle spielen die privaten Haushalte bei der Energiewende? Müssen die Verbraucher einfach immer nur zahlen?

Oettinger Im Gegenteil, die Rolle der Privathaushalte wird immer zentraler. Um das Potenzial der Privathaushalte zu nutzen, brauchen wir zügig Instrumente wie die Intelligente Stromrechnung und den Intelligenten Stromzähler.

Was ist das?

Oettinger Die Intelligente Stromrechnung weist monatlich aus, welches Gerät wie viel Stromkosten verursacht hat. Das schafft mehr Transparenz und mehr Bewusstsein. Ein Autofahrer wird heute schließlich auch sekundengenau über den aktuellen Verbrauch seines Fahrzeuges informiert und kann seine Fahrweise entsprechend anpassen.

Das klingt anstrengend…

Oettinger Ist es aber nicht. Denn spannend wird das Ganze, wenn die Geräte dann auch noch über ein intelligentes Verbrauchsmanagement vollautomatisch gesteuert werden. Eine moderne Kühltruhe zum Beispiel braucht nur wenige Stunden Strom, um ihre Temperatur tagelang halten zu können. Es wäre doch wunderbar, wenn die Truhe sich den Strom automatisch immer genau dann holt, wenn er besonders günstig ist, weil zum Beispiel gerade viel billiger Solarstrom oder Windstrom im Netz verfügbar ist. Unter diesen Voraussetzungen könnte es auch zu einer Renaissance der Stromspeicherheizung kommen. Mit solchen Techniken sparen wir Geld in den Privathaushalten und stabilisieren gleichzeitig die Netze.

Wann wird so eine Gebäudetechnik in Deutschland Standard?

Oettinger Die Europäische Kommission arbeitet gerade intensiv an der Standardisierung der Techniken, damit sie in großen Stückzahlen preiswert produziert werden können. Ich gehe davon aus, dass das stromintelligente Haus in einigen Jahren bei Neubauten die Regel ist.

Bundesumweltminister Peter Altmauer sagt, die Energiewende sei schon zu einem Viertel geschafft. Stimmt das?

Oettinger Ja, das ist eine realistische Einschätzung. Aber der größte Teil liegt eben noch vor uns. Den Aufbau der neuen Infrastruktur und die politische Überzeugungsarbeit halte ich für die größten jetzt anstehenden Herausforderungen. Zum Beispiel beobachte ich mit Sorge, wie Teile der deutschen Politikdas Fracking von vornherein ausschliessenMan darf nicht nur die Risiken dieser Methode sehen. Sie birgt auch Chancen, denen wir uns nicht kategorisch verschließen sollten.

Fracking bedeutet: Mit hohem Druck und viel Gift Gas aus den Tiefen der Erde freisprengen. Das ist gefährlich für das Grundwasser. Was ist daran gut?

Oettinger Es ist richtig, dass bei der Methode derzeit noch Chemikalien zum Einsatz kommen.. Es zeichnet sich aber gerade eine neue Entwicklung ab. In wenigen Jahren wird Fracking ohne Chemie möglich sein. Und dann kommen die Chancen dieser Technik zum Tragen, von denen die USA bereits massiv profitieren: Dort wird sehr intensiv gefrackt. Mit dem Ergebnis, dass Gas in den USA inzwischen viermal billiger als in Deutschland ist.

Japan will trotz der Nuklearkatastrophe von Fukushima wieder neue Kernreaktoren bauen. Halten Sie einen solchen Sinneswandel in Deutschland auch für denkbar?

Oettinger Nein, eine Rückkehr zur Kernspaltung halte ich in Deutschland für nicht mehr vorstellbar. Aber die Erforschung der Kernfusion, die ebenfalls eine Form von Kernenergie ist, macht gerade große Fortschritte. Vielleicht wird diese Technik eines Tages in Deutschland akzeptiert. Im Übrigen wird Deutschland hinnehmen müssen, dass hier noch sehr lange Atomstrom verbraucht werden wird, auch wenn das letzte deutsche Atomkraftwerk längst abgeschaltet ist. Es gibt in Europa immer noch 140 Atomkraftwerke. Und die meisten Regierungen denken gar nicht daran, sie abzuschalten. Wir werden auch in 40 Jahren noch Atomstrom im deutschen Netz haben.

Thomas Reisener führte das Gespräch

(RP/felt/sap)
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