Neue Lasten, neue Hilfen

Berlin · Was der Koalitionsvertrag Verbrauchern und Firmen bringt.

Der Blick von außen sagt einiges: "Merkel schmiedet Koalition, um Patt zu beenden - die SPD bekommt das Finanzministerium", titelte die "Financial Times". Dass die Sozialdemokraten das wichtigste Einzelressort erhalten, war für die britische Wirtschaftszeitung das zentrale Thema. Auch in Deutschland fürchtet sich die Wirtschaft vor neuen Ausgaben und klagt über die fehlende große Abgabenreform. Zugleich aber regelt der Koalitionsvertrag viele Details, die für Firmen und Verbraucher mal Gutes, mal Schlechtes bedeuten.

Solidaritätszuschlag Der Soli soll ab dem Jahr 2021 entfallen - aber nur für die Bezieher von geringen und mittleren Einkommen. Besserverdienende sollen ihn weiter zahlen. Konkret will die Groko eine Einkommens-Freigrenze ziehen: Wer darunter liegt, muss keinen Soli mehr bezahlen. Wo sie genau liegen wird, lässt der Koalitionsvertrag offen. Im Sondierungspapier war die Rede von einem zu versteuernden Einkommen von 61.000 Euro im Jahr für Singles (Verheiratete: 122.000 Euro). Darüber soll eine Gleitzone eingeführt werden. Der Kaiserslauterner Finanzexperte Frank Hechtner hatte errechnet, dass wegen dieser Gleitzone Brutto-Jahreseinkommen von bis zu 87.000 Euro entlastet werden könnten. Für Einzelne kann der Soli-Abbau bis zu 2000 Euro Entlastung pro Jahr bedeuten.

Familien Das Kindergeld soll zum 1. Juli 2019 pro Kind und Monat zunächst um zehn Euro und zum 1. Januar 2021 um weitere 15 Euro steigen. Entsprechend wird auch der Kinderfreibetrag für Eltern erhöht, die mehr verdienen. Für einkommensschwache Familien sind Maßnahmen gegen Kinderarmut geplant: Unter anderem soll der Kinderzuschlag so weit erhöht werden, dass Bedürftige zusammen mit dem Kindergeld auf die Höhe des für Kinder festgelegten Existenzminimums von derzeit 399 Euro pro Monat kommen.

Geringverdiener Wer in einem so genannten Midi-Job zwischen 450 und 1300 Euro im Monat verdient, soll bei den Sozialabgaben entlastet werden. Wie genau, ist noch offen. Es soll sichergestellt werden, dass die Rentenansprüche der Midijobber durch geringere Einzahlungen nicht geschmälert werden.

Sozialbeiträge Der Beitrag zur Arbeitslosenversicherung soll um 0,3 Prozentpunkte sinken. Laut Bundesagentur für Arbeit könnte dies zum 1. Januar 2019 geschehen. Da Arbeitnehmer und Arbeitgeber den Beitrag je zur Hälfte zahlen, profitieren auch die Arbeitnehmer. Bei einem Brutto-Durchschnittseinkommen von 3200 Euro pro Monat können 9,60 Euro gespart werden.

Krankenversicherung Ab Januar 2019 soll die Parität in der gesetzlichen Krankenversicherung wieder hergestellt werden. Dann müssen Betriebe die Hälfte des Zusatzbeitrags (derzeit im Schnitt ein Prozent des Bruttolohns) übernehmen, bisher trägt der Arbeitnehmer den Zusatzbeitrag allein. Der Arbeitgeber ist bisher nur am allgemeinen Beitrag beteiligt. Wenn nun der gesamte Beitrag geteilt wird, zahlen Arbeitnehmer und Arbeitgeber je 7,8 Prozent. Das wäre eine Entlastung der Arbeitnehmer um 0,5 Punkte. Bei 3200 Euro Durchschnittslohn sind das 16 Euro Entlastung. Umgekehrt wird die Wirtschaft belastet.

Für "kleine" Selbstständige, die in der gesetzlichen Krankenversicherung sind, wird der Mindestbeitrag (genauer: die Bemessungsgrundlage) halbiert.

Apotheken-Versand Schlecht für chronisch Kranke, gut für Apotheken: "Um die Apotheken vor Ort zu stärken, setzen wir uns für ein Verbot des Versandhandels mit verschreibungspflichtigen Arzneimitteln ein", heißt es. Hintergrund ist ein EU-Urteil, das ausländischen Versandapotheken Nachlässe erlaubt, wogegen deutsche Apotheken Sturm liefen, weil sie diese nicht geben dürfen. Die in der Schweiz gelistete Aktie der DocMorris-Mutter Zur Rose fiel binnen zwei Tagen um über 15 Prozent.

Längere Sprechstunde Das Wort "Bürgerversicherung" kommt im Koalitionsvertrag nicht vor. Jedoch will die Groko mehr für Kassenpatienten tun. So müssen niedergelassene Ärzte ihre Praxen künftig länger für Kassenpatienten öffnen. "Das Mindestsprechstundenangebot der Vertragsärzte (für Kassenpatienten) wird von 20 auf 25 Stunden erhöht", heißt es. Um den Ärztemangel auf dem Land zu beheben, soll es regionale Zuschläge für dortige Ärzte geben. Zudem soll die Zahl der Medizinstudienplätze erhöht werden.

Zahnersatz Beim Zahnarzt sollen Kassenpatienten etwas entlastet werden. Die Festzuschüsse der Kassen für Zahnersatz sollen von 50 Prozent der Regelversorgung auf 60 Prozent angehoben werden. Damit kann die Zuzahlung der Kassenpatienten etwas sinken. Die Details sind aber noch offen.

Pflege Mit einem Sofortprogramm werden 8000 neue Stellen in der Altenpflege geschaffen. Kinder, die weniger als 100.000 Euro brutto im Jahr verdienen, will der Staat künftig verschonen, wenn es um die Pflegekosten ihrer Eltern geht.

Mütterrente II Vor der Finanzierung der Rente nach 2030 hat sich die Koalition noch gedrückt. Hierzu soll eine Kommission aus Sozialpartnern, Wissenschaft und Politik bis März 2020 Empfehlungen vorlegen. Doch es gibt auch Konkretes: Schon bald soll es die "Mütterrente II" geben: Auch Mütter, die vor 1992 Kinder geboren haben, sollen künftig das dritte Jahr Erziehungszeit angerechnet bekommen - aber nur, wenn sie mindestens drei Kinder haben. Die monatliche Mütterrente pro Kind erhöht sich damit um rund 31 Euro auf 93 Euro.

Grundrente Geringverdiener mit mindestens 35 Beitragsjahren (inklusive Erziehungs- und Pflegezeiten) sollen eine Grundrente bekommen, die zehn Prozent über dem Niveau für Hartz IV liegt. Die Rentenversicherung soll dazu die Bedürftigkeit prüfen. Selbstgenutztes Wohneigentum des Rentners darf sie dabei nicht antasten, es zählt zum Schonvermögen.

Pflicht für Selbstständige Für alle Selbstständigen wird es eine Pflicht zur Altersvorsorge geben. Allerdings dürfen diese wählen, ob sie sich in der gesetzlichen Rentenversicherung, in einem berufsständischen Versorgungswerk oder anderweitig privat absichern.

Digitalisierung Der Anspruch ist hoch: An die Weltspitze bei der digitalen Infrastruktur soll Deutschland kommen. Dazu soll das W-Lan vorankommen. Nachdem die Koalition die Störerhaftung abgeschafft hat, sollen nun in allen Bundesbehörden, Bahnhöfen und Zügen kostenfreie W-Lan-Hotspots eingerichtet werden. Vor allem soll das schnelle Internet ausgeweitet werden: "Wir wollen den flächendeckenden Ausbau mit Gigabit-Netzen bis 2025 erreichen." Um Druck auf Städte und Konzerne zu machen, erhalten Bürger einen Rechtsanspruch auf schnelles Internet ab 2025. Der Bund will dafür zehn bis zwölf Milliarden Euro bereit stellen, die aus der Versteigerung der Mobilfunk-Lizenzen kommen. Dabei wird nur Glasfaser gefördert.

Befristete Jobs Sie sollen stark eingeschränkt werden. Befristungen ohne Sachgrund soll es in Betrieben mit mehr als 75 Beschäftigten nur noch bei maximal 2,5 Prozent der Beschäftigten geben. Zudem soll es sachgrundlose Befristungen nur noch in einem Zeitraum von maximal 18 Monaten statt bisher 24 Monaten geben. Auch Kettenbefristungen werden eingedämmt.

Teilzeit In Betrieben mit mehr als 45 Mitarbeitern soll künftig ein Rechtsanspruch auf Rückkehr von einem Teilzeit- in einen Vollzeitjob eingeführt werden.

Baukindergeld Familien sollen über einen Zeitraum von zehn Jahren 1200 Euro je Kind pro Jahr erhalten, wenn sie sich eine Immobilie zulegen. Dies soll bis zu einem zu versteuernden Haushaltseinkommen von 75.000 Euro plus 15.000 Euro Freibetrag je Kind gewährt werden. Das Finanzministerium geht davon aus, dass die neue Förderung jährlich mehr als 200.000 Familien zugutekommt.

Mieten Die Modernisierungsumlage, die Vermieter auf Mieten umlegen können, wird von elf auf acht Prozent gesenkt. Die monatliche Miete darf künftig nach einer Modernisierung nicht um mehr als drei Euro pro Quadratmeter Wohnfläche innerhalb von sechs Jahren erhöht werden (Kappungsgrenze). Der Bindungszeitraum des qualifizierten Mietspiegels wird von zwei auf drei Jahre verlängert.

Gebäudesanierung Wer eine neue energiesparende Heizung einbaut oder in andere Maßnahmen zur energetischen Sanierung investiert, soll künftig steuerlich gefördert werden. Dabei will die Groko für die Antragsteller ein Wahlrecht zwischen einer Zuschussförderung und einer Reduzierung des zu versteuernden Einkommens vorsehen.

Energie "Wir stehen für eine Klimapolitik, die die Bewahrung der Schöpfung mit wirtschaftlichem Erfolg verbindet", heißt es. Eine Kommission soll den Plan zum Ausstieg aus der Kohleverstromung beschließen - mit konkretem Enddatum. Aus Steuermitteln soll der Strukturwandel im rheinischen Revier und anderen (Braunkohle-)Regionen bezahlt werden. Beim Netzausbau soll es Vorfahrt für Erdkabel geben. Diese sind zwar teurer als überirdische Kabel, werden aber von Bürgern besser akzeptiert. Der deutsche Energieverbrauch soll bis 2050 halbiert werden.

(mar)
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