Lohnuntergrenze Mindestlohn über 8,80 Euro?

Berlin · Eine unabhängige Kommission legt Ende Juni fest, wo die Lohnuntergrenze ab 1. Januar 2017 liegen soll: Erwartet wird eine Erhöhung auf rund 8,80 Euro. Ökonomen halten das mit Blick auf Geringqualifizierte und Flüchtlinge für zu viel.

 Der Chef der Wirtschaftsweisen, Christoph Schmidt, sagt, der Mindestlohn dürfe nicht zu einer steigenden Arbeitslosenquote führen.

Der Chef der Wirtschaftsweisen, Christoph Schmidt, sagt, der Mindestlohn dürfe nicht zu einer steigenden Arbeitslosenquote führen.

Foto: Hans-Jürgen Bauer

Gut vier Millionen Arbeitnehmer in Deutschland haben laut Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) von der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns am 1. Januar 2015 profitiert. Ihre Stundenverdienste wurden auf das vorgeschriebene Mindestniveau von 8,50 Euro pro Stunde angehoben — es sei denn, dass für sie eine der wenigen Ausnahmeregeln wie etwa für Langzeitarbeitslose galt. Eine unabhängige Kommission soll nun alle zwei Jahre die Höhe des Mindestlohns festlegen. Am Montag kam sie zu einer letzten regulären Sitzung zusammen — bevor sie am 28. Juni die Mindestlohnhöhe für 2017 bekannt gibt.

In der Kommission sitzen der Vorsitzende und jeweils drei Vertreter der Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite sowie zwei Wissenschaftler, die allerdings nicht stimmberechtigt sind. Mitte 2015 wurde der Jurist Jan Zilius, der ehemalige Justiziar der Gewerkschaft IG Bergbau Chemie Energie (IG BCE) und spätere RWE-Personaldirektor, auf Basis eines gemeinsamen Vorschlags der Sozialpartner zum Kommissionsvorsitzenden benannt.

Die Kommission entscheidet mit einfacher Mehrheit. Zilius hat in einer Pattsituation eine wichtige Position inne. Wenn sich Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite nicht einigen können — was wahrscheinlich ist — soll der Vorsitzende zunächst einen Vermittlungsvorschlag unterbreiten. Wird auch dieser nicht angenommen, entscheidet allein der Chef. Die Regierung muss den Vorschlag per Rechtsverordnung in Kraft setzen. Ändern kann sie ihn nicht; sie kann ihn nur ablehnen.

Die Kommission will sich vor allem nach der Entwicklung der Tariflöhne zwischen Januar 2015 und Juni 2016 richten. Im so genannten Tarifindex bildet das Statistische Bundesamt diese Entwicklung monatlich ab. Bis Ende Mai lag der Tarifindex um 3,07 Prozent höher als im Januar 2015. Im öffentlichen Dienst und in der Metallindustrie werden manche Steigerungen aber erst im Juli wirksam. Nun kommt es darauf an, ob die Kommission hier peinlich genau ist — oder ob sie dies noch einbezieht.

Würde sich die Kommission allein nach dem Tarifindex richten, müsste der Mindestlohn 2017 auf etwa 8,80 Euro pro Stunde angehoben werden. Sie kann aber noch andere Faktoren berücksichtigen. Die robuste Konjunktur spricht eher dafür, nach oben aufzurunden. Ein zu hoher Mindestlohn kann andererseits aber die Arbeitsmarktintegration der Flüchtlinge erschweren.

Die Arbeitnehmerflügel von Union und SPD plädierten am Wochenende für einen Mindestlohn von über neun Euro. Ihr Argument: Der deutsche Mindestlohn liegt mit derzeit 8,50 Euro deutlich niedriger als etwa der französische (9,67 Euro pro Stunde) oder der britische (9,16 Euro).

"Es muss verhindert werden, dass eine Erhöhung des Mindestlohns zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit führt", warnte dagegen der Chef der Wirtschaftsweisen, Christoph Schmidt. "Davon wären vor allem Geringqualifizierte mit entsprechend niedriger Produktivität betroffen." Zudem stelle schon der Mindestlohn von 8,50 Euro "eine sehr hohe Hürde dar, wenn es darum geht, eine große Anzahl von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt zu integrieren". Eine Erhöhung "zum jetzigen Zeitpunkt wäre unvernünftig und mit großen Risiken verbunden", sagte der Chef des Rheinisch-Westfälischen Wirtschaftsforschungsinstituts (RWI).

Auch Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), sagte: "Bei der Festlegung des Mindestlohns ist Vorsicht geboten." Eine Erhöhung "wird den Zugang von Flüchtlingen in den Arbeitsmarkt erschweren, auch wenn die Qualifizierung von Flüchtlingen oberste Priorität haben sollte". Wichtiger als ein höherer Mindestlohn sei es, die Tarifverhandlungen zu stärken.

Dank der robusten Beschäftigungslage gab es insgesamt kaum merkliche negative Effekte. Allerdings fielen dem Mindestlohn über 300.000 Mini-Jobs zum Opfer. Davon dürfte ein kleiner Teil in reguläre Stellen umgewandelt worden sein. Wirtschaftlich schwächere Regionen — etwa ganz Ostdeutschland außer Berlin — sind von Jobverlusten generell eher bedroht. Die Zahl der Hartz-IV-Aufstocker ging durch den Mindestlohn zudem kaum zurück: Sie verringerte sich um lediglich rund 40.000.

(mar)
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