DIW-Chef Marcel Fratzscher "Höheres Rentenalter ist unvermeidlich"

Berlin · Der Chef des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), Marcel Fratzscher, warnt im Interview vor Steuersenkungen und einem massiven Beitragsanstieg.

Marcel Fratzscher nennt Steuersenkungsversprechen "nichts anderes als Populismus".

Marcel Fratzscher nennt Steuersenkungsversprechen "nichts anderes als Populismus".

Foto: dpa, cdt axs kat vfd

Für Marcel Fratzscher ist es nicht weit vom Institut in unsere Berliner Redaktion. Der 45-Jährige muss nur 800 Meter Wegstrecke zu Fuß zurücklegen.

Herr Professor Fratzscher, wie nötig sind Steuerentlastungen in der kommenden Legislaturperiode?

Fratzscher Steuersenkungsversprechen sind für mich nichts anderes als Populismus. Hier geht es nur darum, Wählerstimmen einzusammeln. Denn nach Steuerentlastungen wird es einige Jahre später unweigerlich wieder Steuererhöhungen geben müssen. Ich fühle mich als Bürger auf den Arm genommen, wenn mir jemand für die nächste Wahlperiode Steuerentlastungen verspricht. Die Bundesregierung kann sich nachhaltige Steuersenkungen gar nicht leisten.

Sie sehen also keinen Spielraum für Steuersenkungen?

Fratzscher Steuersenkungen machen Sinn, wenn man strukturelle Haushaltsüberschüsse hat. Die haben Bund und Länder aber nicht. Wir werden 2016 zwar mit einem Rekordüberschuss von über 20 Milliarden Euro abschließen. Doch das liegt an Dingen, die wenig mit einer guten Finanzpolitik zu tun haben. Der Überschuss liegt am aktuell noch hohen Beschäftigungsstand und an den aktuell extrem niedrigen Zinsen. Bund und Länder sparen derzeit über 40 Milliarden Euro an Zinsen pro Jahr. Wenn es die geringen Zinsen nicht gäbe, hätten wir Staatsdefizite.

Demografisch bedingt wird ja auch die Zahl der Steuerzahler sinken...

Fratzscher Ja, das ist so. Voraussichtlich 2019 wird der Alterungs-Knick kommen: Dann gehen die Erwerbstätigenzahlen zurück, die Lohnsteuereinnahmen und Sozialbeiträge sinken. Gleichzeitig werden die Zinsen auch wieder steigen. Das heißt: Der Staat lebt eigentlich schon heute von seiner Substanz. In dieser Situation den Bürgern zu versprechen, sie könnten dauerhaft steuerlich entlastet werden, stimmt so nicht.

Brauchen wir also höhere Steuern?

Fratzscher Nein, wir brauchen weder systematische Steuererhöhungen noch Steuersenkungen. Wir brauchen mehr Steuergerechtigkeit. Es gibt viele Steuerprivilegien für Einzelne, die ohnehin schon privilegiert sind. Die gehören abgeschafft. Beispiel Erbschaftsteuer: Wer 500.000 Euro bis eine Million Euro erbt, zahlt zehn Prozent Erbschaftsteuer, wer mehr als 20 Millionen Euro erhält, zahlt nur etwas mehr als ein Prozent. Beispiel Abgeltungsteuer: Kapitaleinkünfte werden mit 25 Prozent besteuert, Arbeitseinkommen dagegen mit bis zu 42 Prozent. Beispiel Einkommensteuer: Fremdkapital bei der Unternehmensfinanzierung wird gegenüber Eigenkapital bevorzugt.

Ist es gerecht, dass ab 53.666 Euro Jahreseinkommen schon der Spitzensteuersatz von 42 Prozent greift?

Fratzscher Man kann den Spitzensteuersatz später anfangen lassen und damit die oberen 15 Prozent noch mal ein bisschen entlasten. Aber das größere Problem liegt bei den unteren 40 Prozent der Einkommenskala. Diese haben in den letzten 15 Jahren am wenigsten und zum Teil gar nicht am Wirtschaftswachstum teilhaben können. Es sind diese Menschen, deren Einkommen am meisten gefährdet bleiben. Zumal die Beiträge für die Renten- und die Krankenversicherung demografiebedingt weiter steigen werden...

...was ja gerade die unteren Einkommen erneut stark belasten wird.

Fratzscher Ja. Das Problem lässt sich beispielsweise durch die Einführung von Freibeträgen bei den Sozialbeiträgen für untere Einkommen verbessern. Aber ein begrenzter Rentenbeitragsanstieg für alle wird unvermeidlich sein. Die Politik muss hier unbedingt gegensteuern, damit es nicht zum massiven Beitragsanstieg in der Rentenversicherung kommt. Dafür brauchen wir den flexibleren Übergang in die Rente im Alter.

Wollen Sie damit sagen, dass das Renteneintrittsalter in Deutschland steigen muss?

Fratzscher Ja, das ist unvermeidbar. Damit die gesetzliche Rentenversicherung auch künftig nachhaltig bleibt, bedeutet das für jedes Jahr zusätzlicher Lebenserwartung acht Monate länger zu arbeiten. Die Menschen werden also nach 2030 länger als bis 67 Jahre arbeiten müssen. Das ist auch in Ordnung, weil die Lebenserwartung weiter deutlich zunimmt. Es geht darum, den Menschen im Alter Wahlfreiheiten zu geben. Es gibt Leute, die würden sehr gerne bis 70 arbeiten. Durch den demografischen Wandel benötigen auch Unternehmen Fachkräfte. Wieso stellen wir den Menschen, die gerne länger berufstätig sein möchten, dabei so viele Hürden in den Weg?

Und wann können wir wieder mit steigenden Zinsen rechnen?

Fratzscher Die Zinswende wird leider später kommen, als wir uns das in Deutschland wünschen. Wenn die Europäische Zentralbank (EZB) im Jahr 2018 die Staatsanleihekäufe beendet, heißt das noch lange nicht, dass auch die Zinsen angehoben werden. Ich befürchte, wir reden noch von drei bis vier Jahren, bis die Zinsen wieder steigen, denn Europa befindet sich nach wie vor tief in der Krise.

Ist EZB-Chef Mario Draghi mit seinem ultralockeren Kurs in der Geldpolitik gescheitert?

Fratzscher Nein. Denn man muss sich ja immer vor Augen führen, was passiert wäre, wenn die EZB nicht diese Politik gefahren hätte. Die Zinsen sind für Unternehmenskredite gesunken, und das hilft dabei, die Investitionen zu stabilisieren und wieder anzukurbeln. Die Inflationsrate steigt ein bisschen. Die Politik der Zentralbank war nicht voll effektiv, aber sie war auch nicht ineffektiv. Ich würde sagen: Die Politiker in den Euro-Staaten sind gescheitert. Sie haben es versäumt, Strukturreformen vorzunehmen, die Banken zu sanieren. Auch die deutsche Politik muss sich fragen, warum Unternehmen hier so wenig investieren: Viele Märkte in Deutschland sind zu starr und verschlossen, die Genehmigungsverfahren zu lang.

Jan Drebes und Birgit Marschall führten das Gespräch.

(mar, jd)
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