Interview mit EZB-Chef Trichet "Der Euro ist eine Schicksalsgemeinschaft"

Berlin (RP). Jean-Claude Trichet, der Vorsitzende der Europäischen Zentralbank (EZB), spricht im Interview mit unserer Redaktion über das Sparprogramm und die Krise Griechenlands, die Fehler der Politik und den Kampf gegen die Inflation.

Der Euro-Rettungsschirm ESM
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Foto: dpa, Boris Roessler

Herr Präsident, die Schuldenkrise im Euro-Raum beunruhigt die Menschen. Wie beurteilen Sie die Lage — immerhin erhalten Sie als EZB-Chef am Donnerstag den renommierten Karlspreis für Ihre Verdienste um den Euro als Teil der europäischen Einigung.

Trichet Wir erleben eine dramatische weltweite Finanzkrise, die sich auch auf den Euro-Raum auswirkt. Es ist die tiefste Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Alle fortgeschrittenen Volkswirtschaften müssen daraus ihre Lehren ziehen — die USA, Japan, Europa. Für die Europäische Währungsunion sieht es ganz gut aus: Der Euro und die Preise sind stabil. In den Euro-Ländern betrug die Inflationsrate im Durchschnitt der vergangenen zwölf Jahre knapp zwei Prozent, in Deutschland sogar nur 1,5 Prozent; das ist ein besseres Ergebnis, als es je in den 50 Jahren zu Zeiten der D-Mark erzielt wurde.

Die Wirtschafts- und Währungsunion (WWU) kriselt trotzdem.

Trichet Das eigentliche Problem im Euro-Raum ist, dass die Wirtschaftsunion — das erste "W" in WWU — der Euro-Staaten nicht hinreichend umgesetzt worden ist. Da gibt es erheblichen Verbesserungsbedarf. Die wichtigste Lehre aus der Krise lautet: Die Euro-Staaten müssen ihre Wirtschafts- und Finanzpolitik besser aufeinander abstimmen — und zwar dringend.

Griechenland kriselt weiter.

Trichet Die EU-Regierungen haben in den vergangenen Jahren die Regeln des Wachstums- und Stabilitätspaktes ignoriert. Leider haben die großen Länder — also Frankreich, Deutschland und Italien — 2004 und 2005 versucht, den Wachstums- und Stabilitätspakt zu schwächen oder außer Kraft zu setzen — und das in einer Zeit, da sie ihn nicht eingehalten haben. Ich habe damals gravierende Bedenken geäußert. Denn der Inhalt des Stabilitätspaktes wurde geschwächt und der Geist des Paktes verletzt. Diese Schwächung hatte verheerende Konsequenzen. Wir benötigen dringend eine wirksame und verlässliche Führung, die sich nach gemeinsamen Zielen richtet.

Die Staats- und Regierungschefs haben sich unlängst auf schärfere Regeln für den Stabilitätspakt geeinigt. Reicht das aus?

Trichet Nein. Wir fordern die Regierungschefs, die EU-Kommission und das Europaparlament auf, weiter zu gehen und sehr viel strenger zu sein. Wir brauchen automatische Sanktionen für Defizitsünder. Das gesamte Verfahren — von der Feststellung einer drohenden Haushaltsschieflage bis zur tatsächlichen Verhängung von Strafen — muss automatisch ablaufen. In der Vergangenheit haben wir die Gefahren von Selbstzufriedenheit bei den Regierungen gesehen.

Ist es vorstellbar, dass ein Euro-Land die gemeinsame Währung verlässt?

Trichet Nein, das ist völlig unrealistisch. Es ist im EU-Vertrag auch gar nicht vorgesehen. Der Euro-Raum ist eine Schicksalsgemeinschaft: Jeder ist auf den anderen angewiesen.

Warum wendet sich die EZB so strikt gegen eine Umschuldung Griechenlands?

Trichet Das Anpassungs- und Reformprogramm, auf das sich die EU und der Internationale Währungsfonds mit Griechenland geeinigt haben, sieht keine Umstrukturierung vor. Griechenland muss dieses Programm vollständig und rigoros umsetzen.

Viele Griechen demonstrieren.

Trichet Die Korrektur eines langjährigen schlechten Wirtschafts- und Finanzmanagements ist nie einfach. Griechenland hat jahrelang über seine Verhältnisse gelebt, staatliche Löhne und Gehälter immer wieder angehoben. Es ist absolut notwendig, das Land zu reformieren, damit es wieder auf eigenen Füßen stehen kann.

In Deutschland wächst der Unmut über immer neue Hilfen.

Trichet Als wir uns für den Binnenmarkt mit einer gemeinsamen Währung entschieden haben, haben wir eine starke gegenseitige Abhängigkeit geschaffen. Wenn ein Mitglied in Schwierigkeiten gerät, ist es die Verantwortung aller Mitgliedsländer, eine finanz- und wirtschaftspolitische Anpassung zu überwachen. Falls erforderlich, können sie diese Anpassung unterstützen — wie es der IWF auch tut — nämlich durch Darlehen, die unter strikten Auflagen gewährt werden und keine vergünstigten Konditionen enthalten.

Die Hilfeprogramme könnten Steuersenkungen in Deutschland stoppen.

Trichet Es ist sicherlich richtig zu sagen, dass starke Auflagen notwendig sind, und dass die Darlehen zur Ergänzung der IWF-Finanzierung nicht subventioniert werden sollen. Auf der anderen Seite wäre es sehr paradox, wenn Europäer in schwierigen Zeiten sich weniger vereint zeigen, als es anderswo auf der Welt beobachtet werden kann. Überall auf der Welt hilft man sich gegenseitig unter Freunden. Ich möchte den Deutschen aber auch sagen: Es ist von allerhöchstem Interesse für sie selbst, dass Griechenland sich einer wirtschaftlichen Anpassung unterzieht und ein stabiler Partner in Europa und im Euroraum ist.

Ist die Skepsis gegenüber Finanzhilfen "typisch deutsch"?

Trichet Nein, das gibt es auch in anderen Ländern.

Was sind die Hauptgründe für die anziehende Inflation im Euro-Raum?

Trichet Die Öl- und Rohstoffpreise sind weltweit gestiegen. Das führt auch zu einer Erhöhung im Verbraucherpreisindex für den Euroraum. Wir als EZB sind da, um Zweitrundeneffekte auch bei Tarifverhandlungen zu verhindern. Mittelfristig wird die Preisentwicklung unserer Definition von Preisstabilität entsprechen: unter zwei Prozent, nahe bei zwei Prozent.

Als Kanzler Kohl — nicht alleine, aber mit besonderem Einsatz — den Euro auf den Weg brachte, sah er darin vor allem eine politische und keine ökonomische Entscheidung. War das ein entscheidender Geburtsfehler der Gemeinschaftswährung?

Trichet Der europäische Einigungsprozess zielt darauf ab, Frieden, Wohlstand und Stabilität auf unserem Kontinent zu gewährleisten. Dazu gehört von Anfang an die Idee eines gemeinsamen Marktes. Das Bestreben der Europäer, sich zusammenzuschließen und eine gemeinsame Währung zu schaffen, hat tiefe Wurzeln in der europäischen Politik. Bundeskanzler Kohl und vor ihm Helmut Schmidt und mit ihnen viele andere politische Führer in den europäischen Ländern haben das Projekt vorangetrieben, weil sie wussten, dass damit Frieden und Wohlstand einhergehen können. Die Währungsunion ist ein großartiger Erfolg. Die Skepsis, dass sie Preisstabilität nicht gewährleisten könne, hat sich überhaupt nicht bestätigt.

Brauchen wir ein Europa der zwei Geschwindigkeiten, damit nicht die Bremser das Tempo bestimmen?

Trichet Das sehen die Europäischen Verträge nicht vor. Wir müssen auf einem Gleichschritt der Mitgliedsstaaten bestehen. Aber es ist auch ganz klar: Wenn man sich eine einheitliche Währung teilt, muss man sich gemeinsam viel mehr anstrengen und in der Wirtschaftspolitik viel effektiver zusammenarbeiten.

Was sind die Grundwerte Europas?

Trichet Die Europäer hängen untrennbar an der Demokratie. Sie fühlen sich den Menschenrechten und der Marktwirtschaft verbunden. Mir scheint, dass die Soziale Marktwirtschaft, auf die die Deutschen so stolz sind, schon lange auch von den anderen Staaten angenommen worden ist. Am wichtigsten ist: Wir haben eine gemeinsame kulturelle Identität.

Wie vermittelt man diese Vorstellung von Europa jüngeren Menschen?

Trichet Frieden, Wohlstand und Stabilität darf man nie — nie — wie ein Geschenk als gegeben hinnehmen. Jedes Land, jede Gemeinschaft, jedes Individuum muss sie immer wieder verteidigen. Wir haben als Europäer in politischer und geostrategischer Sicht heute mehr Gründe, uns zu vereinigen, als unmittelbar nach dem Weltkrieg. Damals gab es nur die USA als großen Binnenmarkt. Heute haben wir Indien, China, Brasilien, andere Schwellenländer. Für uns Europäer bedeutet es auch, sich noch mehr zu vereinen, um der Existenz dieser neuen Wirtschaftsriesen Rechnung zu tragen.

Im Oktober endet Ihre Amtszeit als Präsident der EZB. Was war Ihre bedeutendste oder auch schönste Erfahrung in diesen acht Jahren?

Trichet Von Anfang an gab es einen großen Teamgeist in der gesamten Mannschaft der EZB auch in schwierigsten Situationen. Es ist gut zu sehen, dass wir hier nicht nur als Institution arbeiten, sondern als echte Europäer, die an der historischen Konstruktion der Europäischen Union hängen.

Welche Bedeutung hat der Karlspreis?

Trichet Alle in der EZB sind bewegt und beeindruckt, dass wir — gerade in der derzeitigen herausfordernden Situation — diesen Preis erhalten. Ich kenne den Preis, ich war ja auch schon dabei. Das ist eine sehr eindrucksvolle Feier. Wir sprachen vorhin von den Wurzeln Europas. In Aachen sind wir an den Wurzeln Europas. Ich hatte bei einem Schülerwettbewerb einmal eine Medaille mit dem Porträt von Karl dem Großen gewonnen. Er war ein deutscher Kaiser und ein französischer Kaiser — was macht das schon.

Das Gespräch führte Birgit Marschall.

(felt)
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