Interview Christoph Schmidt Bei Brexit droht keine neue Lehman-Krise

Essen · Christoph Schmidt ist Chef der Wirtschaftsweisen und des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung. Wir sprachen mit ihm über den Brexit und den Absturz der Anleihezinsen.

Christoph Schmidt, Chef der Wirtschaftsweisen, sorgt sich um die Folgereaktionen eines möglichen Brexit.

Christoph Schmidt, Chef der Wirtschaftsweisen, sorgt sich um die Folgereaktionen eines möglichen Brexit.

Foto: Karlheinz Schindler

Ist die negative Rendite der zehnjährigen ein Alarmzeichen?

Schmidt In den vergangenen Jahren haben Investoren in Phasen großer Unsicherheit verstärkt als sicher geltende Anlagen nachgefragt. Dazu gehören neben Gold inzwischen auch die deutschen Bundesanleihen. Dem entsprechend sind die negativen Renditen in Deutschland Ausdruck einer erhöhten Risikoeinschätzung der Anleger.

Was bedeuten die negativen Anleihezinsen für den Staat und die Verbraucher?

Schmidt Für die öffentlichen Haushalte bedeuten negative Zinsen zunächst einmal eine vorübergehende Senkung der Zinsausgaben. Allerdings ist wichtig zu betonen, dass diese Entlastung der öffentlichen Haushalte nicht von Dauer ist, sondern sich bei steigenden Zinsen wieder zurückbildet. Für die Verbraucher bedeuten die negativen Zinsen, dass sie ihre Sparpläne eventuell anpassen müssen. Für die private Altersvorsorge ist aber die reale Rendite entscheidend - also die um die Inflationsrate bereinigte Verzinsung. Diese ist durch die derzeit geringe Inflation deutlich weniger stark gesunken als die nominale Verzinsung.

Falls die Briten nächste Woche für den Ausstieg ihres Landes aus der Europäischen Union stimmen: Wie gefährlich wäre er für Finanzmärkte und Realwirtschaft?

Schmidt An Spekulationen über die Auswirkungen auf die Finanzmärkte mag ich mich ungern beteiligen. Für die Realwirtschaft würde ein Brexit kurz- und mittelfristig voraussichtlich vor allem erhebliche Wachstumseinbußen für Großbritannien nach sich ziehen, unter anderem durch die Wirkung von negativen Vertrauenseffekten und Einbußen beim internationalen Handel. Die dämpfenden Wirkungen auf das Wirtschaftswachstum der restlichen EU-Länder sind schwer zu quantifizieren und hängen sehr von der Intensität von deren Austausch mit Großbritannien ab. Sie dürften aber insgesamt geringer ausfallen als für Großbritannien selbst.

Droht uns eine Wiederholung der schweren Krise, wie wir sie 2008 nach dem Zusammenbruch der US-Bank Lehman erlebt haben?

Schmidt Man sollte bei aller Sorge den kühlen Kopf nicht verlieren, eine derartige Episode zeichnet sich derzeit nicht ab. Ernsthafte Sorgen bereiten mir allerdings die möglichen Konsequenzen für den langfristigen Zusammenhalt Großbritanniens einerseits und Europas andererseits, die sich aus Folgereaktionen auf einen Brexit ergeben könnten.

ANTJE HÖNING STELLTE DIE FRAGEN.

(RP)
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