Düsseldorf Alle wollen sein wie Estland

Düsseldorf · Kein europäisches Land hat seine Verwaltung so stark digitalisiert wie der Balten-Staat. In Estland zeigt sich, wie mutige Reformen belohnt werden - und warum der deutsche Föderalismus für die Digitalisierung eine Katastrophe ist.

Düsseldorf: Alle wollen sein wie Estland
Foto: Ferl

Man hätte sich das alles sparen können: Die Schulzimmer, die improvisierten Kabinen, die Wahlurnen, sogar die Stimmzettel. Per Hand mussten die vielen Tausend Wahlhelfer am Sonntag bei der Bundestagswahl in Deutschland die Stimmen auszählen. Anschließend wurden die Stapel von Stimmzetteln eingelagert. Zur Sicherheit.

In Estland wählt man bequem online - wenn man will. Computer an, identifizieren, ein paar Pin-Codes eintippen. Das war's. Kein europäisches Land hat seine Verwaltung in den vergangenen Jahren so stark digitalisiert wie der Balten-Staat. Davon können sich auch die Staats- und Regierungschefs der EU-Staaten überzeugen, die heute in der estnischen Hauptstadt Tallinn zusammenkommen. Das 1,3-Millionen-Einwohner-Land hat momentan die Ratspräsidentschaft in der Europäischen Union inne - und lud deshalb zu einem Digital-Gipfel ein.

Düsseldorf: Alle wollen sein wie Estland
Foto: Ferl

Der Vergleich mit Estland dürfte für Bundeskanzlerin Angela Merkel noch ernüchternder sein als das Wahlergebnis am Sonntag - denn vom Status der stärksten Kraft, den Merkels CDU immerhin verteidigen konnte, ist Deutschland bei der Digitalisierung meilenweit entfernt. Denn während Deutschland nach dem Zusammenbruch der DDR Milliarden in den Aufbau Ost investierte, dabei aber überwiegend Sozialabgaben und einige Infrastrukturprojekte finanzierte, hat sich Estland nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion neu erfunden.

Seinen Anfang nahm die Geschichte 1991, als das Land unabhängig wurde - und beim Aufbau der Verwaltung bei Null beginnen konnte. Das Internet spielte hierbei eine zentrale Rolle. 77 Prozent der Bürger nutzen heute das Internet in Estland für die Interaktion mit Behörden, in Deutschland sind es nur 55. Der Abstand ist groß, doch die Zahlen können nur andeuten, wie groß er in Wirklichkeit ist - denn mit "Interaktion" könnte auch nur ein E-Mail-Wechsel gemeint sein.

In Estland können die Bürger hingegen heute nicht nur online wählen, sondern auch digital Verträge unterzeichnen, Rezepte von Ärzten abrufen, staatliche Fördergelder beantragen und innerhalb weniger Minuten am heimischen Computer eine neue Firma gründen. Behördengänge mit langen Wartezeiten, wie sie in Deutschland etwa nach einem Umzug beim Ummelden oder bei der Zulassung eines Fahrzeugs üblich sind, gibt es dadurch in Estland so gut wie gar nicht.

Möglich macht das nicht nur das Netz aus superschnellen Glasfaserleitungen, zu dem die meisten Menschen Zugang haben, sondern vor allem ein Chip auf dem Personalausweis, auf dem die digitale Identität des Besitzers gespeichert ist.

"Estland macht vor, wie die Digitalisierung gleichermaßen in Wirtschaft, Verwaltung und Gesellschaft umgesetzt werden kann", sagt Bernhard Rohleder, Hauptgeschäftsführer des Digitalverbands Bitkom. Wichtig sei daher, dass die Bundesregierung in Tallinn nicht nur deutsche Interessen vertrete. Es gehe auch darum, von den Erfahrungen der Vorreiter zu lernen, ihre Erfolgsmodelle an die Verhältnisse in Deutschland anzupassen und hierzulande konsequent umzusetzen.

Erschwert wird das jedoch durch den Föderalismus. Während in dem (sehr viel kleineren) baltischen Staat eine Zentralverwaltung dafür sorgt, dass das Programm "e-Estonia" vorangetrieben wird, versacken Maßnahmen hierzulande im Zuständigkeitsdschungel. So gilt beispielsweise das neue Angebot "Servicekonto.NRW" (siehe Text rechts), mit dem sich Bürger künftig authentifizieren können, nur für das Bundesland. "In der nächsten Ausbaustufe müssen alle 16 Länderportale harmonisiert werden", heißt es beim Städte- und Gemeindebund NRW.

Der Mangel an Digitalisierung verschont Deutschland bislang allerdings auch vor den Schattenseiten: 2007 legte ein großer Hackerangriff breite Teile des estnischen Netzes über Wochen hinweg lahm. Verwaltung inklusive.

(frin)
Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort