Karriereende vor einem Jahr Thomas Morgenstern — glücklich gescheitert

Düsseldorf · Vor einem Jahr beendete der österreichische Skispringer Thomas Morgenstern mit nur 27 Jahren seine Karriere. Heute steht fest: Was wie eine Niederlage aussah, war der Beginn eines neuen Lebens.

 Thomas Morgenstern fliegt noch immer. Allerdings nicht auf Skiern, sondern im Helikopter.

Thomas Morgenstern fliegt noch immer. Allerdings nicht auf Skiern, sondern im Helikopter.

Foto: dpa

Beinahe hätte Thomas Morgenstern den Sprung, der die Gewissheit bringt, nicht gemacht. Die vier Sprünge sind genug, hat sein Trainer gesagt. Doch Morgenstern will an jenem Vormittag im September 2014 noch einmal runterspringen. Ein noch besseres Gefühl kriegen. Der Trainer gibt nach. Minuten später sitzt Morgenstern mit Tränen in den Augen im Auslauf der Bergisel-Schanze in Innsbruck. Er weiß, dass er gescheitert ist. Wenige Tage später, am 26. September 2014, verkündet er seinen Rücktritt. Mit 27 Jahren. Schuld daran ist eine Frage, diese eine, nebensächlich klingende Frage, auf die er keine Antwort findet.

Es ist keine Phrase, sondern die Wahrheit, dass Morgenstern, dessen Buch "Über meinen Schatten" soeben erschienen ist, in seinem Sport alles gewonnen hat, was es zu gewinnen gibt. Olympia, Weltmeisterschaft, Gesamtweltcup und Vierschanzentournee. Das ist keinem anderen Österreicher gelungen und sonst nur den Skisprung-Legenden Espen Bredsen, Matti Nykänen und Jens Weißflog. Kaum eine Saison, in der er nicht auf sich aufmerksam machte. Zwölf Jahre sprang Morgenstern im Weltcup und nur dreimal landete er in der Endabrechnung nicht unter den ersten zehn.

Skifahren wurde ihm schnell zu langweilig

Schon früh stellte dieser Thomas Morgenstern für den Skisprung alles hintenan. Als Kind wird ihm das Skifahren schnell zu langweilig, also baut er mit seinen Freunden neben der Piste Schanzen und saust los. Mit neun Jahren macht er seinen ersten Sprung auf einer richtigen Schanze. Kein anderer Sport kommt für ihn näher an das Gefühl heran zu fliegen wie ein Vogel. Mit 16 debütiert er im Weltcup. Zwei Wochen später gewinnt er zum ersten Mal, der Beginn seiner Karriere.

Was sollte diesen Kerl je aufhalten?

In seinen ersten Jahren im Weltcup stürzt er zweimal. Einmal springt er zu draufgängerisch, beim zweiten Mal geht die Bindung auf. Doch von diesen Stürzen bleibt nicht viel übrig. Sie lassen sich erklären. Er hat das Gefühl von Unverwundbarkeit. "Man schaltet den Kopf aus und springt einfach", sagt er über die Zeit, als noch alles gut war.

Im Winter 2013/2014 hört es auf, gut zu sein. Dabei sieht es aus, als würde Thomas Morgenstern noch mal so richtig loslegen. Am 14. Dezember holt er in Titisee-Neustadt seinen 23. Weltcupsieg, der erste seit fast zwei Jahren. Er weiß nicht, dass es sein letzter sein wird. Er hat eine Krise hinter sich. Hat sich von seiner Freundin getrennt, obwohl sie gerade ein Kind bekommen hat, und gleich eine neue Frau an seiner Seite. Das kommt im österreichischen Boulevard nicht gut an. Einen Tag nach seinem Sieg in Titisee stürzt er, als nach der Landung die Bindung des linken Skis aufgeht. Finger gebrochen, Abschürfungen, Prellungen, Blutergüsse. Es hält ihn nicht davon ab, zwei Wochen später bei der Vierschanzentournee zu starten und Zweiter zu werden. Doch dann verändert ein Sprung sein ganzes Leben.

Plötzlich hat er viel Zeit zum nachdenken

10. Januar 2014. Skiflug-Weltcup in Bad Mitterndorf. Skifliegen ist noch einmal eine ganz andere Hausnummer als Skispringen. Die Flüge gehen über 200 Meter, die Sportler sind schneller unterwegs und höher in der Luft. Das macht auch einen Sturz gefährlicher. Morgenstern ist gerade ein paar Meter unterwegs, als er nach links kippt und in den Schnee knallt. Er ist kurzzeitig bewusstlos und kommt ins Krankenhaus. An den Sturz kann er sich nicht erinnern. Kopf und Lunge sind verletzt, aber er hat Glück gehabt. Und nur ein Ziel: Olympia. Tatsächlich startet er vier Wochen später in Sotschi und holt Silber mit der Mannschaft. Danach beendet er die Saison vorzeitig. Der Rücktritt ist noch weit weg.

Das ist Thomas Morgenstern
13 Bilder

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Plötzlich hat er Zeit. Viel zu viel Zeit zum Nachdenken. Und es beginnt in ihm zu arbeiten. Denn da ist sie wieder, diese eine Frage. Noch im Krankenhaus hat er mit seinem Trainer die Ursachen des Sturzes in Bad Mitterndorf analysiert. Bis er die Erleuchtung hat: Weil er seine Skier zum V kreuzt, überschneiden sie sich hinten. Normalerweise liegt bei ihm das linke Skiende über dem rechten. Vor einigen Monaten hatte einmal das rechte über dem linken Skiende gelegen, einen Sturz konnte er gerade noch verhindern. Auch in Bad Mitterndorf passiert ihm das. Das macht sein Flugsystem instabil, bei Flügen am Limit ist das gefährlich. Die große Frage ist also: Warum lag bei diesen beiden Sprüngen das rechte Skiende über dem linken? "Lege ich bei meinem Sport mein Leben in die Hände des Zufalls?", fragt er in seinem Buch. Er vergleicht das mit einem Autoreifen, der nach 150.000 Kilometern platzt. Alles ist so wie immer, der Asphalt, das Wetter, und dann wacht man im Krankenhaus auf. Danach ist es schwer, wieder Auto zu fahren, ohne sich einen Kopf zu machen.

Jedes Training ist plötzlich wahnsinnig anstrengend

Doch Thomas Morgenstern will wieder springen. Er spricht viel mit seiner Psychologin, er trainiert seine Fitness, er will es noch einmal wissen, wieder zurück an die Spitze. Im Juli 2014 steht der erste Sprung nach Sotschi an. Er geht in die Umkleidekabine, steigt in den Anzug. Alles gut. Doch als er sich die Schuhe anzieht, beginnt er sich unwohl zu fühlen. Denn die Schuhe sind Teil des Sprungsystems. Auf dem Balken stellt er fest: "Und plötzlich war die ganze Freude wie weggeblasen. Es blieb nur noch Überwindung." Je näher er dem Schanzentisch kommt, desto größer wird seine Angst. "Ich bin nach dem Sturz mit einer Bremse gesprungen", sagt er.

Er macht in diesem Sommer viele Sprünge, aber keinen unbeschwerten. Jedes Training ist plötzlich wahnsinnig anstrengend, er fühlt sich nicht mehr als Herr der Lage. "Es war schwer, sich bei jedem Sprung zu überwinden, sich der Angst zu stellen zu hoffen, dass es in erster Linie gut geht. Soll ich weitermachen? Soll ich nicht weitermachen?" Er kann diese Sorge nicht abstellen, dass beim Absprung wieder das rechte über dem linken Skiende liegt. Auch nicht mit der Hilfe seiner Psychologin. Und deshalb ist er nicht bereit, Sprünge am Limit zu machen. Für einen wie ihn, für den nur der Sieg zählt, reicht das nicht.

Dann kommt das Sommertraining in Innsbruck. Bei seinem fünften Sprung wird es windig. Plötzlich kommen ihm in der Luft die Skier entgegen. Adrenalin schießt in seinen Körper, er kann einen Sturz noch soeben verhindern. Unten im Auslauf schließt er mit seiner Karriere ab. "Ich war dieser Aufgabe nicht mehr gewachsen", sagt er später. Denn er weiß: Beim Skispringen herrschen selten Laborbedingungen, mit Wind muss er immer rechnen. "Der Grat zwischen Funktionieren und Krankenhaus war mir zu schmal."

Kein Fremder mehr im eigenen Dorf

Eigentlich hätte Thomas Morgenstern die Schanze als Geschlagener verlassen müssen. Zwar scheitert er bei dem Versuch, in den Profisport zurückzukehren, doch eine Niederlage ist es für ihn nicht. Weil er feststellt, dass es ein Leben danach gibt. Ein Leben, in dem er viel mehr Zeit hat für seine Tochter. In dem er erst mal keiner geregelten Tätigkeit nachgehen muss, so hat er es in Interviews durchblicken lassen. In dem er wieder mehr zuhause sein kann, nur fünf Kilometer von seinem Elternhaus entfernt. In dem Dorf, wo er sich schon beinahe als Fremder fühlte, weil er so viel unterwegs war. Ein Leben, in dem er Zeit hat für eine andere Art des Fliegens. Kürzlich ist er Juniorenweltmeister im Hubschrauberflug geworden. "I derf mi verändern", sagt er in seinem Dialekt, den er auch dann kaum ablegt, wenn er versucht, Hochdeutsch zu sprechen.

Diese Veränderung beginnt er bereits ein paar Stunden nach den Sprüngen in Innsbruck. Noch einmal sitzt er auf einer Schanze, in Stams. Die Anlage ist kleiner, sie liegt ihm. Noch ein paar Sprünge. Die Entscheidung ist längst gefallen, doch bis auf seinen Manager weiß noch niemand davon. Er bittet die Betreuer, die Kamera einzuschalten. In dem Video wird später zu sehen sein, wie ein junger Mann in sein neues Leben springt.

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