"Wer Rad fährt, erfährt die Ewigkeit" Frankreichs Faible fürs Fahrrad

Düsseldorf · Aus der Historie heraus ist das Vélo für unsere Nachbarn mehr als nur Fortbewegungsmittel. Es ist Ausdruck nationaler Identität. Im Alltag genauso wie bei der Tour de France, die in 50 Tagen in Düsseldorf in ihre 104. Auflage startet.

Tour de France 2017: Vorstellung Strecke und Etappen
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Pressekonferenz zur Strecke der Tour de France 2017

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Die Franzosen und das Fahrradfahren - das ist nicht nur die Beziehung zwischen einer Nation und einem Fortbewegungsmittel. Das ist mehr. Es ist Selbstverständnis, Begeisterung. Ja, zuweilen spirituell erhöhte Projektion. Wie beim Ethnologen Marc Augé, der im Vorjahr in einem Interview mit der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" erklärte: "Wer Rad fährt, erfährt die Ewigkeit." Der Mann ist 81, und er dürfte vielen seiner Landsleute mit seiner Hommage an das "Vélo", das Fahrrad, aus der Seele gesprochen haben. Dann, wenn er sich an seine Kindheit erinnert, wie er bei seinen Großeltern in der Provence das Radfahren gelernt hat: "Ich fühlte mich frei, das Radfahren weitete meinen Horizont", sagte er.

Die besondere Beziehung zum Fahrrad speist sich in Frankreich aus der Historie, und da aus zwei Aspekten: dem Rad als Fortbewegungsmittel und dem Rad als Sportgerät. Die eine Funktion des Vélo ist ohne die andere kaum denkbar. Denn Frankreich ist ohne seine Tour de France nicht denkbar - das größte Radrennen der Welt, aber vor allem Mythos der nationalen Einheit zwischen der Hauptstadt Paris und den Départements in der Fläche. In das vom französischen Historiker Pierre Nora in den 1980ern entworfene Konzept der "Lieux de mémoire", der Erinnerungsorte, findet die Tour natürlich Eingang. Seit 1903 führt die Große Schleife durch Frankreich, und damals etablierte sich das Radrennen an sich zum beliebten Freizeitangebot fürs Volk, egal ob als regionales Ereignis oder in der nationalen Spitze.

1896 gab es in Frankreich bereits eine Million Fahrräder. In Deutschland waren es zur selben Zeit nur etwa 500.000. In Édouard Michelin hatte 1891 ein Franzose das Fahrradfahren mit der Erfindung des Luftreifens, eines austauschbaren Gummireifens mit Luftschlauch, revolutioniert. Paris bildete zu dieser Zeit immer wieder den Stand der Fahrrad-Technik ab. Französische Modelle wurden nach Deutschland und in die Niederlande exportiert. Ende des 19. Jahrhunderts war das Rad Massenproduktionsware, und als Massenproduktionsware nutzten es eben auch breite Bevölkerungsteile. Es sind die Bilder von Fernand Léger (1881 bis 1955), die seine Landsleute als Radfahrer festhielten, als Menschen, die dem Maschinenrhythmus der Fabriken und der Enge der Städte mit Muskelkraft in die Natur entkommen.

In den 1930ern war das Rad längst Kult in Frankreich. Das Fahrrad war das populäre Fortbewegungsmittel der Arbeiterklasse. Gleichzeitig verlieh die Tour de France den radelnden Arbeitern Prestige und einen Hauch von Glamour, von der großen Welt, die einem Arbeiter aus nächster Nähe naturgemäß verwehrt blieb. "Diese Verbindung zwischen dem Rad als Transportmittel des Proletariers und dem Rad als Instrument des sportlichen Helden, die hat den Kult und den Mythos des Radfahrens begründet", findet auch Ethnologe Augé.

24 Jahre älter als Augé ist Robert Marchand, 105 also. Er stellte im Januar mit 22,547 gefahrenen Kilometern im Velodrom von Quentin-En-Yvelines in Paris einen Stundenweltrekord in seiner Altersklasse auf. "Was ich mache, kann jeder. Das Schwierigste ist, 100 Jahre zu leben", sagte er. Mit 105 taugt Marchand jedenfalls zum lebenden Beweis von Augés These: "Wer Rad fährt, erfährt die Ewigkeit."

Doch in den vergangenen Jahren ist die Liebe der Franzosen zu ihrem Fahrrad ein wenig erkaltet. Die Regierung hat festgestellt: Im Alltag wird zu wenig geradelt, weniger als in Deutschland und noch viel weniger als in Dänemark oder den Niederlanden. Deswegen beschloss man 2012 einen nationalen Vélo-Plan. Der Anteil der Radfahrer am Gesamtverkehr soll bis 2020 auf zehn Prozent steigen, zudem will Frankreich das beliebteste Radtourismusziel Europas werden. 2015 setzte Paris noch einen drauf: Mit Investitionen von 150 Millionen Euro will die Hauptstadt 2020 Fahrrad-Welthauptstadt sein. 15 Prozent der Verkehrsteilnehmer sollen dann Radfahrer sein - das wäre eine Verdreifachung. Es soll 10.000 neue Stellplätze und eine Verdopplung auf 1400 Kilometer Radwege geben.

Soll ja keiner sagen, die Grande Nation ließe ihr Vélo im Stich.

(klü)
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