Paralympics Fahnenträger statt Knecht auf Vaters Hof

Vancouver (RPO). Mit Gedanken an jenen trüben Novembertag des Jahres 1971 will sich Frank Höfle gar nicht mehr abgeben. Sein Vater lenkte damals einen Traktor über den Feldweg. Die Sicht war schlecht wegen des starken Nebels, der Unfall von unbegreiflicher Tragik.

 Frank Höfle, Andrea Eskau und Verena Bentele posieren am Frankfurter Flughafen.

Frank Höfle, Andrea Eskau und Verena Bentele posieren am Frankfurter Flughafen.

Foto: ddp, ddp

Söhnchen Frank, gerade mal vier Jahre alt, geriet unter den Traktor, der Überrollbügel drückte sich in seinen Kopf. Wie durch ein Wunder überlebte der kleine Bursche, doch er lag drei Monate im Koma, und als er wieder erwachte, stellten die Ärzte fest, dass er fast nichts mehr sieht. Auf einem Auge ist Frank Höfle blind, auf dem anderen sind ihm fünf Prozent Sehfähigkeit geblieben. Mehr als Schatten und Umrisse kann er damit nicht erkennen.

Die Zähigkeit, die Frank Höfle damals an den Tag legte, hat er sich für sein restliches Leben zu eigen gemacht. Dass er die deutsche Paralympics-Mannschaft am Freitag als Fahnenträger bei der Eröffnungsfeier anführen darf, ist der verdiente Lohn für eine große Sportler-Karriere. Zum zehnten Mal wird der 42-Jährige in Kanada an Paralympics teilnehmen.

Mit 13 Goldmedaillen im Biathlon und Langlauf wurde er zum erfolgreichsten deutschen Behindertensportler im nordischen Bereich. Im Sommer holte er bei Straßenradrennen 1992 und 1996 insgesamt eine Gold- und zwei Bronzemedaillen.

In erster Linie sieht sich Höfle als Wintersportler. Zu verdanken hat er das Schwester Reinholda Zirkel. Diese nahm sich auf dem Internat für Blinde und Sehbehinderte in Heiligenbronn des kleinen Jungen an und brachte ihm das Skifahren bei. Von da an ließ sich Höfle durch nichts und niemandem von seinem Weg abbringen. "Wenn ich das nicht geschafft hätte, würde ich heute als Knecht auf dem Bauernhof der Eltern dahinvegetieren", sagt er.

Frank Höfle setzte sich durch. In der Familie gegen elf gesunde Geschwister. In der Grundschule gegen die Mitschüler, die ihn auslachten, weil er viel später als sie lesen und schreiben lernte. Letzlich schaffte er sogar das Abitur, mit einer Note von 1,1. Er begann eine Ausbildung bei einer Bank, doch wieder akzeptierte man ihn nicht so, wie er war. "Nach drei Wochen durfte ich nicht mehr an den Schalter, weil sich die Kunden über den Blinden beschwerten", erzählt Höfle.

Und auch beim Sport warf man ihm immer wieder Knüppel zwischen die Beine. "Zum Heulen war mir aber nur, wenn ich ausgeschlossen wurde", sagt er: "Ich durfte mal bei einer deutschen Meisterschaft der Nichtbehinderten nicht mitmachen, obwohl ich die Norm geschafft hatte." Eine Gefährdung für die Allgemeinheit sei er, so hieß es damals: "In solchen Augenblicken denkst du schon mal ans Aufgeben."

Er hat es nie getan, allen Widrigkeiten zum Trotz. Doch selbst im Erfolg musste er sich rechtfertigen. Weil er so sicher auf Skiern unterwegs war, munkelten Freunde und Rivalen, er betrüge. Österreicher legte nach einem Rennen einst Protest ein, weil sie glaubten, Höfle sehe zu gut. Sogar seine Teamkollegen musste er mit einem Attest des Arztes besänftigen. Dass er sich - fast blind wie er nun einmal war - bei Stürzen fünf Bänderrisse zuzog und die Knochen mehr als einmal blank gescheuert hatte, behielt er für sich.

Der Erfolg hat ihm Selbstvertrauen und Selbstsicherheit gegeben. Im Berufs- und Familienleben ist Frank Höfle fest verankert. Der Vater dreier Töchter arbeitet als Controller in seiner früheren Schule. Seinem Schicksal versucht er sogar etwas Positives abzugewinnen. Ohne seine Behinderung, so sagte er mal, wäre er ein "ziemlich ekelhafter Typ" geworden.

Am Freitag werden sie ihm zujubeln. Frank Höfle wird die deutsche Fahne tragen, den Blick durch das weite Rund schweifen lassen und den Moment genießen. Dass er dabei nur Umrisse sieht, wird er klaglos als gegeben hinnehmen. Wie so oft in den letzten 38 Jahren.

(SID/chk)
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