Olympia 2016 Ein Tag, eine Straße, eine Stadt

Rio de Janeiro · Die Rua Almirante Goncalves hat alles, was Rio de Janeiro ausmacht.

 An Steintischen treffen sich jeden Tag Männer zum Kartenspielen.

An Steintischen treffen sich jeden Tag Männer zum Kartenspielen.

Foto: dpa, peter bauza tba hpl

Alfredo sitzt jeden Abend auf diesen drei gelben Plastikstühlen. Und wartet. Auf Musiker, die ihre Instrumente auspacken und anfangen, Samba und Bossa Nova zu spielen.

"Pssssst", zischt er Touristen an, die reden. Mit harter Hand führt der Hausherr des Bip Bip hier sein Regiment. Aus Rücksicht auf die Nachbarn darf nicht geklatscht, sondern Applaus nur mit den Fingern geschnipst werden. 1968 eröffnet, gehört der charmanteste Sambaladen von Copacabana seit 32 Jahren ihm. Hier wurden Karrieren geboren.

Das Bip Bip ist das "Wohnzimmer" der Bewohner der Rua Almirante Goncalves - mit 300 Metern eine der kürzesten Straßen in ganz Rio de Janeiro. Aber sie hat all das, was diese Stadt ausmacht, man darf nur nicht achtlos hindurcheilen. Sondern muss in die Läden hineingehen.

Im Bip Bip summen sie die Herz-Schmerz-Lieder mit, tanzen, lassen den Tag ausklingen. Es ist eigentlich nur eine Garage, Alfredinho (73), wie ihn alle nennen, sitzt am Eingang, führt eine Strichliste über das Dosenbier, das die Gäste dem Kühlschrank entnehmen. Neben ihm steht ein Telefon auf einem Tisch. Klingelt es, krächzt er Unverständliches in den Hörer und knallt wieder auf. Warum sitzt er auf drei Stühlen? "Damit ich besser ans Telefon rankomme." Die Frauen huldigen ihm.

Das ist der Abend in der Rua Almirante Goncalves - doch wie sieht der Alltag am Tag in dieser Straße aus, die direkt von der berühmten Strandpromenade in Copacabana abgeht? Hier gibt es unter anderem: zwei Banken, drei Imbisse, einen Lottoladen, ein Hotel, die 50 Jahre alte Wäscherei "Branca de Neve" ("Schneewittchen"), zwei Friseursalons, einen Schlüsselladen.

An Steintischen treffen sich jeden Tag Männer zum Kartenspielen, darunter an diesem Tag ein 82-jähriger früherer Telegrafist der Marine, der von Erlebnissen im Suez-Kanal berichtet. Benannt ist die Rua Almirante Goncalves nach einem Militär, der im Krieg gegen Paraguay (1864-70) gekämpft hat. Ein Spaziergang durch ein Panoptikum der Olympiastadt - das ganz wunderbar das Leben hier widerspiegelt.

Hinein in den Herrensalon Gino, in die 60er Jahre. Uralte Friseurstühle, eine noch ältere Registrierkasse mit Kurbel, Rasierpinsel - und viel Patina. Am Eingang liegen ältere Playboy-Ausgaben, die Preistafel ist handgeschrieben, der Herrenschnitt kostet 33 Reais, knapp zehn Euro. Francisco das Chagas arbeitet hier seit 13 Jahren, jeden Tag fährt er drei Stunden vom Vorort Novo Iguazu hin- und zurück, um für 300 Euro Monatslohn hier zu arbeiten. Warum tut er sich das an? "Ich bin hier geboren, aber die Mieten kann ich nicht mehr bezahlen, das hier ist meine Heimat." Ab und zu rennen Diebe am Laden vorbei, die am Strand was geklaut haben. "Das ist hier quasi ihre Durchgangsstraße."

Draußen vor der Banco do Brasil sitzt Ronaldo Bergamine - seit acht Jahren. "Ich habe so lange in einem Atelier gearbeitet, abgeschlossen von dem Land draußen", erzählt er. "Ich liebe die Leute hier, es ist wie eine Familie, jeder kennt jeden, ich bin mitten im Leben." Er spachtelt gerade eine Marien-Figur ab, die "Nossa Senhora das Dores", ("der Schmerzen"). Schmerzhaft, das trifft auch auf Ronaldos Leben zu. Der Vater Alkoholiker, mit zehn Jahren abgehauen, auf der Straße gelebt, all die Brutalität dieser Stadt erfahren, die hinter der schönen Samba- und Caipi-Fassade lauert. Nach ein paar Jahren holte ihn ein Mann namens Helio Sarda von der Straße. "Er hat mich gerettet." Es war sein Schicksal.

Die ganze Straße ist ziemlich auf den Hund gekommen. Einmal im Jahr werden die Vierbeiner mit Sonnenbrüllen und Perücken ausstaffiert, dann gibt es den Hundekarneval. Jetzt, im Winter, wo das Thermometer schon einmal unter 20 Grad fällt, werden den Hunden gerne Woll-Überzieher angelegt. Und auch wenn gerade Krise ist, am guten Aussehen wird nicht gespart. "Waschen und Haareschneiden" steht an der Tür. Drinnen steht ein großer weißer Chow Chow im Wind von zwei 3500 Watt starken Heißluftföhnen. 15 Euro kostet das Schneiden, Waschen, Föhnen, mehr als ein normaler Herrenschnitt. "Hier haben 80 Prozent der Leute einen Hund", sagt Claudio Ribeiro (39). Er wohnt in der Favela Rocinha, hat eine Ausbildung zum Hundefriseur gemacht.

Mit einem elektronischen Schneider stutzt er das Fell eines Pudels. "Pro Tag schaffe ich 15 bis 16 Hunde", berichtet Claudio. Es gehört zu den Eigenarten der Menschen hier, dass für viele der Hund das Ein und Alles ist. Copacabana hat einen Rentneranteil von geschätzt 60 Prozent - die Vierbeiner sind für einige auch Begleiter gegen die Einsamkeit. Es dämmert bereits, der Tag neigt sich dem Ende zu, bei Alfredo wird das Bier für den Abend in den Kühlschrank eingeräumt.

(RP)
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