Christoph Harting Der Sido von Rio

Meinung | Rio De Janeiro/Düsseldorf · Olympiasieger Christoph Harting geriet durch sein eigenartiges Verhalten nach dem Gold im Diskuswurf unter Beschuss. Die Diskussion darüber ist aber ebenfalls merkwürdig - und teilweise völlig überzogen.

Twitter-Kritik an Hartings Verhalten
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Foto: dpa, nic

Christoph Harting ist 25 Jahre alt und seit Samstag völlig überraschend Olympiasieger im Diskuswerfen. Wie sich das anfühlt, werden naturgemäß die Wenigsten nachempfinden können. Harting hat in Rio eindrucksvoll vorgeführt, dass offenbar nach großen sportlichen Triumphen komische Dinge im Körper vor sich gehen. Die teilweise völlig überzogene Diskussion über sein Verhalten war allerdings noch viel komischer. Und so typisch für eine deutsche Öffentlichkeit, die sich schwer damit tut, echte Typen von echten Rotzlöffeln zu unterscheiden.

Erst waren sich alle sicher: Was Harting gemacht hat, der zuvor nur als kleiner Bruder von Robert Harting (31) geführt wurde, geht überhaupt nicht! Eine Werbebande hat er umgetreten, bei der Siegerehrung sich nicht stramm aufs Treppchen gestellt und pflichtschuldig ein paar Tränen verdrückt, sondern arg herumgekaspert. Harting hat dem ZDF-Reporter Norbert König den Handschlag verweigert, der ist so etwas wie der Waldemar Hartmann der Leichtathletik-Szene. Auf die deutsche Journaille war Harting sowieso nicht gut zu sprechen, mit der er angeblich schlechte Erfahrungen gemacht hat. Dass bei einer Olympia-Pressekonferenz vor allem internationale Medien sitzen – geschenkt.

Nun dauert es besonders im Internet glücklicherweise nicht lange, bis alle wieder zumindest etwas abgekühlt sind und sich die Bilder auch noch einmal ansehen. Das hilft, um wenigstens ein paar Dinge geradezurücken. Und so hat sich in den sogenannten Sozialen Netzwerken die Stimmung schon wieder gedreht. Viele sehen in Harting gar ein Opfer einer spießigen Gesellschaft, die sich nach Persönlichkeiten sehnt, ihnen aber keinen Spielraum zugesteht, um Ecken und Kanten zu entwickeln.

Nicht nur eine Schublade öffnen

Doch was macht einen Athleten zu einer Persönlichkeit? Im Fall von Harting ist es wie so oft im Leben ratsam, nicht nur eine Schublade zu öffnen, um einer Person gerecht zu werden. Natürlich hat er jedes Recht der Welt, Emotionen auszuleben. Solange er damit nur sich zum Kasper macht. Die Grenze war überschritten, als er versuchte, wie man es früher von Klassenfahrten kannte, den hinter ihm stehenden deutschen Bronzemedaillengewinner Daniel Jasinski für seine Blödeleien zu gewinnen. Womöglich wird Jasinski nur einmal im Leben auf einem olympischen Treppchen stehen, und womöglich wollte er diesen besonderen Moment auf seine Weise genießen. Viele deutsche Athleten waren geradezu erbost von dem Verhalten von Christoph Harting. Man sollte annehmen, sie können die Situation am besten einschätzen. Weitspringer Sebastian Bayer polterte zum Beispiel in einem Beitrag bei Facebook: "Gold im Diskus ist echt super geil! Aber für dieses Verhalten schäme ich mich in Deutschland vor dem TV!"

Dass man einem Reporter, für welchen Arbeitgeber auch immer, kein Interview geben will, ist freilich ein legitimer Akt der Selbstbestimmung. Dass man einem anderen Menschen allerdings den Handschlag verweigert, ist einfach nur der Ausdruck schlechten Stils. Und auch das Ballyhoo danach macht es zumindest nicht leichter, den Menschen Christoph Harting zu verstehen.

Vielleicht gelingt dass am ehesten, wenn man sich vergegenwärtigt, was Sportler in dieser Gewichtsklasse mittlerweile zuallererst sind: Entertainer. Und Christoph Harting hat sich perfekt in diese Rolle gefügt. Um sich von seinem omnipräsenten großen Bruder abzusetzen, reichte es nicht aus, sich einfach ein Trikot zu zerreißen. Robert Harting hat das nach allen seinen großen Triumphen gemacht – im Blitzlichtgewitter und euphorisiert vom Moment. Es hätte schon bei Christoph nun die Hose sein müssen, um eine breitere Öffentlichkeit zu überraschen. Im Stile eines miesgelaunten Musikers ist er über seine Bühne gestolpert und hat ein wenig wie die Lightversion von dem ach so bösen Skandal-Rapper Sido gerüpelt. Das reicht gewiss nicht aus, um eine Staatskrise auszulösen. Dafür ist das alles viel zu langweilig. Echte Typen erzählen Geschichten. Darauf wartet man gespannt bei Christoph Harting.

Mit etwas Abstand hat sich nun auch Harting noch einmal alles durch den Kopf gehen lassen. "Wie bereitet man sich darauf vor, Olympiasieger zu werden? Bei aller Tagträumerei – sowas kannst du dir nicht ausmalen. Du bist auch noch halb im Wettkampfmodus, du bist im Kopf eigentlich völlig woanders, du bist hormontechnisch völlig übersteuert. Damit umzugehen ist eine Kunst für sich", sagte der Berliner in der ARD zur Siegerehrung. "Stillstehen war nicht so meins, deswegen ist das vielleicht falsch angekommen."

(gic)
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