Rudy und Co. blühen auf Aus der zweiten Reihe ins Rampenlicht

Belfast · Bundestrainer Joachim Löw ist zufrieden. Mit neun Siegen in neun Spielen hat sich die Nationalelf für die WM qualifiziert. Bedeutende Rollen haben dabei Spieler, die beim Titelgewinn 2014 noch vor dem Fernseher saßen.

Nordirland - Deutschland: Einzelkritik
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Unnachgiebig nieselt der Regen herab. Er fällt horizontal, ein Regen von der Art, der über Tribünendächer nur müde lächelt. Solche Dächer halten ihn nicht auf. Trotzdem hüpfen und tanzen rund 20.000 Nordiren im Windsor Park von Belfast am Ende des WM-Qualifikationsspiels gegen Weltmeister Deutschland, als hätte ihre Mannschaft soeben mindestens einen wichtigen Titel gewonnen. Dabei hat sie nur, aber immerhin, in der letzten Minute eines ungleichen Treffens den Ehrentreffer zum 1:3 erzielt. Sie hat ihn sich verdient, weil sie sich weder durch die deutliche Unterlegenheit noch durch einen klaren Rückstand entmutigen lässt. Kampfgeist liegt in der DNA der nordirischen Sportler, Fußballkunst nicht. "Ich habe eben keine vier Spieler von Bayern München auf der Bank", sagt Trainer Michael O'Neill. Sein Kollege Joachim Löw lobt den Gegner dennoch. "Das ist schon auch erstaunlich, was sie leisten - mit zwei Millionen Einwohnern", erklärt Löw, "defensiv sind sie ein Schwergewicht."

Es reicht allerdings nicht, den Deutschen den neunten Sieg im neunten Gruppenspiel und damit die vorzeitige Qualifikation für die WM-Endrunde in Russland 2018 zu nehmen. Die Nordiren können den Gegner nicht einmal gefährden, weil sie 90 Minuten hingebungsvoll verteidigen müssen. Die DFB-Auswahl profitiert von den frühen Toren durch Sebastian Rudy und Sandro Wagner, "und sie hat das schon sicher zu Ende gespielt", wie Löw findet. Der mit seiner spielerischen Leichtigkeit beeindruckende Innenverteidiger Mats Hummels findet das auch. "Wir hatten nur ein paar ganz kleine Wackler drin", sagt er. Und niemand trägt einen Einspruch vor.

Es ist nicht nur der Abend für Hummels, der die Aktionen seiner Mannschaft von hinten organisiert und dem Spiel Struktur gibt. Das darf Löw von einem Weltmeister erwarten. Im Windsor Park unterstreichen Spieler ihre Bedeutung fürs Team, die beim WM-Finale in Rio vor drei Jahren noch Fernsehzuschauer waren. Joshua Kimmich, der als Außenverteidiger so etwas wie einen Rechtsaußen gibt, bereitet Rudys 1:0 vor, und er schlägt Serien guter Flanken. Die Statistiken der internationalen Verbände führen ihn als besten Vorbereiter der Qualifikation in Europa. Das freut ihn. Aber es überrascht ihn nicht. "Natürlich trainieren wir Flanken und Vorlagen", sagt der 22-Jährige mit der Abgeklärtheit des Routiniers, "hier bei der Nationalmannschaft haben wir allerdings auch eine hohe Strafraumpräsenz. Trotzdem ist es immer ein bisschen Glück, ob man einen Mitspieler trifft." Er hat viel Glück zurzeit. Und ein Tor steuert er auch noch bei.

Ein paarmal trifft er Sandro Wagner (29), dessen Flugkopfball am Pfosten landet und der mit einer verblüffend eleganten Drehung um seinen Gegenspieler mit einem sehenswerten Linksschuss das 2:0 erzielt. Der spätberufene Mittelstürmer ist im Windsor Park eine wichtige Größe, weil es gegen die tief stehenden Nordiren weniger Sprints im Usain-Bolt-Tempo als ständige Beweglichkeit im und am Strafraum braucht. Wagner schafft Räume und liefert sich Zweikämpfe mit den Verteidigern, an denen das Publikum bestimmt großes Vergnügen hat. Die Quote des Stürmers ist bemerkenswert. In vier Einsätzen für die DFB-Auswahl hat er vier Tore erzielt. Mehr Argumente braucht ein Angreifer nicht. Die Zuschauer vollenden ihm den Abend. "Das sind ganz tolle Fans, das habe ich noch nie erlebt", sagt er strahlend, "das hat Spaß gemacht."

Sein ehemaliger Hoffenheimer Teamkollege Sebastian Rudy (27) wird das bestätigen. Seit er in der Nationalmannschaft und bei Bayern München einem größeren Publikum vorspielen darf, werden jene Fußballfreunde täglich weniger, die ihn mal als graue Mittelfeldmaus unterschätzt haben. In Belfast bildet er mit den Innenverteidigern und dem Kollegen Toni Kroos, dessen letzter Fehlpass vermutlich Monate zurückliegt, die Achse des Spiels. Rudy verteilt die Bälle, bewegt sich mit selbstverständlichem Geschick über den Platz und lässt sich von immer mal tüchtig heranrauschenden Iren nicht aus der Ruhe bringen. Ein weiterer Kandidat für das ohnehin berauschend gut besetzte deutsche Mittelfeld.

Rudy trägt dazu bei, dass sein anspruchsvoller Coach voller Güte feststellen kann: "Ich bin mit diesem Spiel und dem Verlauf der Qualifikation absolut zufrieden." Die morgige abschließende Begegnung in der Gruppe mit Aserbaidschan in Kaiserslautern (20.45 Uhr) erhebt der Bundestrainer in den Rang eines besseren Testspiels. Gewinnen will er es aber doch. "Das wäre dann ein neuer Rekord in der WM-Qualifikation, mit der vollen Punktzahl und diesem Torkonto", sagt er.

Es soll ja niemand glauben, dass er sich jetzt zurücklehnt. Ganz sicher nicht im Blick auf Russland. Im November kommen Testspiele in England und wohl gegen Frankreich, im Frühjahr gegen Spanien und Brasilien. Da wird sein Team stärker gefordert als in der Qualifikation. Und das findet Löw ziemlich gut. Denn: "Wir müssen uns steigern." Schließlich will er nicht nur in Nordirland gewinnen, sondern auch in Russland. Möglichst sogar im Finale.

(pet)
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