Oliver Kahn im Interview "Keine Mannschaft ist Deutschland überlegen"

Rio de Janeiro · Oliver Kahn erlebt seine sechste WM, die zweite als TV-Experte im ZDF. Nie zuvor habe er sich so wohl gefühlt wie in Brasilien, sagt er.

 Oliver Kahn arbeitet bei der WM im Team mit Moderator Oliver Welke.

Oliver Kahn arbeitet bei der WM im Team mit Moderator Oliver Welke.

Foto: ZDF

Im Gespräch mit dem SID erzählt der frühere Nationaltorhüter von lustigen Begegnungen an der Copacabana, wie viel "Eier" man für seinen Job braucht, und er übt Kritik an Mesut Özil. Die deutsche Mannschaft, meint Kahn, besitze dennoch "die Reife für den ganz großen Titel".

Oliver Kahn, die deutsche Mannschaft trifft bei der WM im Achtelfinale auf Algerien - ein Wunschgegner?

Oliver Kahn Die Algerier werden getragen von großem Stolz und der riesigen Begeisterung in ihrem Land. Sie haben schon in den Gruppenspielen einen hohen Aufwand betrieben. Gegen die Russen war der Kräfteverschleiß teilweise schon zu beobachten. Algerien ist eine solide Mannschaft, ohne die ganz große Kreativität. Eine Mannschaft, die sehr stark von dem Geist beseelt ist, Außergewöhnliches bei dieser WM zu leisten. Trotzdem müssen wir weiterkommen.

Weil Sie von der deutschen Mannschaft so überzeugt sind, oder weil sie noch Luft nach oben hat?

Kahn Steigerungsfähig ist die Mannschaft auf jeden Fall. Gegen Portugal hat sie über weite Strecken gezeigt, zu was sie fähig ist. Gegen die USA habe ich die erste Viertelstunde sehr stark gesehen. Deutschland hat sich von einer Kontermannschaft bei der WM 2010 zu einer Ballbesitzmannschaft entwickelt. Dadurch ist das Spiel nicht mehr so vertikal nach vorne ausgerichtet. Probleme bekommen sie häufig, wenn der Gegner das Mittelfeld um Philipp Lahm aggressiv attackiert und die Passwege in die Spitze clever zustellt. Aber unter dem Strich ist es eine Mannschaft, die sehr klug agiert, mit erfahrenen Spielern, die genau wissen, was man in welchen Spielsituationen tun muss. Die Mannschaft besitzt jetzt die Reife für den ganz großen Titel.

Ist das Verschleppen des Tempos einzelnen Spielern oder dem Gesamtgefüge geschuldet?

Kahn Schnelleres Spiel nach vorne fängt in erster Linie im Kopf an. Es erfordert eine ständige Bewegung und kluge Besetzung der freien Räume in der Offensive. Man sieht kaum einen langen Ball mehr. Mats Hummels würde sicher ab und zu gerne mal einen langen Ball einstreuen, um das Mittelfeld schnell zu überbrücken, um einen anderen Rhythmus reinzubringen. Aber Joachim Löw ist ein absoluter Verfechter des flachen Passes.

Der DFB-Fahrplan für das Achtelfinale gegen Algerien
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Foto: dpa, te nic

Braucht Deutschland in seinem Spiel also mehr Dortmund?

Kahn Ich glaube, dass gerade diese WM zeigt, dass es nicht die eine alles überragende Philosophie im Fußball gibt. Jede Taktik wird früher oder später vom Gegner entschlüsselt. Es gibt immer Lösungen. Hier gegen das spanische Spiel. Oder wie beim Halbfinale der Champions League Real Madrid gegen das von Bayern München. Die Zukunft könnte in einer enormen Flexibilität, was Spielsysteme anbelangt liegen. Dass eine Mannschaft je nach Spielsituation fähig ist, immer wieder ihren Rhythmus variabel anzupassen. Das führt zu einer großen Unberechenbarkeit.

Wenn sie die Mannschaft Spieler dafür hat.

Kahn Dafür braucht ein Trainer spielintelligente, top ausgebildete Spieler. Im Ausbildungsbereich wird ja immer davon gesprochen, dass die Spieler heute sehr vielseitig sein müssen. Gerade die Positionen zwischen offensivem und defensivem Mittelfeld verschwimmen immer mehr.

Erklärt das den Erfolg der Niederländer, deren Fünferkette in der Abwehr je Situation zur Dreier- oder Viererkette wird?

Kahn Deren Trainer Louis van Gaal zeigt auch, dass ein System vor allem zu den Spielern passen muss, die man zur Verfügung hat. Mannschaften von van Gaal wissen immer genau, was in den einzelnen Phasen des Spiels zu tun ist. In der Offensive gibt er einem Robben oder van Persie alle Freiheiten. Trotzdem profitieren gute Mannschaften heute nicht mehr so sehr von der Geschwindigkeit des Einzelnen als vielmehr von der Geschwindigkeit des Kollektivs.

Das Kollektiv gewinnt?

Kahn Das erfolgreiche Spiel ist nicht mehr so sehr auf einen Spieler zugeschnitten, das musste Portugal mit Cristiano Ronaldo erfahren. Trotzdem braucht es weiterhin diejenigen, die den Unterschied ausmachen. Robben, Ribery, Messi, Neymar - es braucht den Superstar weiterhin. Nur: Dieser Topstar ist ein Mannschaftsspieler geworden.

Wer ist dieser Heros in der deutschen Mannschaft?

Kahn Im Moment ist es Thomas Müller, der die wichtigen Tore und damit den Unterschied ausmacht. Insgesamt hat unsere Mannschaft viele Spieler, die jederzeit ein Tor machen können. Das macht es für den Gegner so schwierig.

Müsste bei Deutschland nicht Mesut Özil mehr Akzente setzen?

Kahn Özil ist ein bisschen die Torgefährlichkeit abhanden gekommen. Er fühlt sich scheinbar auf einer zentraleren Zehnerrolle, wo er noch Spieler vor sich hat, wohler. Aber von seiner Qualität her muss er das auch in einem 4-3-3 spielen können. Er wirkt immer noch so ein bisschen blockiert und gehemmt. Vielleicht bekommt er diese Freiheit noch, dass er wirklich erkennt, was er hier erreichen kann. Er spielt ja nicht schlecht, um Gottes Willen. Aber man hat immer das Gefühl, da geht noch mehr.

Warum kann es Deutschland trotzdem zum Titel schaffen?

Kahn Schauen wir uns doch die Basisfaktoren des Fußballs an: Erfahrung - welche Mannschaft hier hat mehr als unsere Nationalmannschaft? Fitness - da könnte es sich vielleicht sogar noch zum Vorteil entwickeln, dass einige Spieler angeschlagen waren und sich ein bisschen ausruhen konnten. Ansonsten wüsste ich nicht, wer uns körperlich überlegen sein sollte. Taktik - ich glaube, kaum eine Mannschaft bei dieser WM, auch nicht die Brasilianer, sind taktisch so gut geschult wie die Deutschen, weil alle Spieler mittlerweile beeinflusst sind von Top-Trainern. Wenger, Guardiola, Mourinho, Klopp. Wenn man all diese Punkte anschaut, wüsste ich keine Mannschaft, die uns wirklich überlegen wäre.

Was muss zu dieser Klasse noch dazukommen?

Kahn Wir erleben eine WM des Willens, eine WM der Leidenschaft, vor allem bei den Südamerikanern. Wenn die das physisch wirklich durchhalten können, was ich nicht glaube, weil das zum Teil brutal war, was die vom Tempo her gespielt haben, wird es natürlich hart. Wenn dieser gigantische Wille auch noch bei unserer Mannschaft dazukommt, bringen wir das Ding auch mal wieder ins Ziel.

Wo Sie gerade über Wille sprechen: Ihr Fehler damals im WM-Finale 2002 - bekommen Sie das hier zu hören?

Kahn Viele Leute wollen über dieses Thema sprechen, weil es sie interessiert, wie ich mich damals gefühlt habe. Aber ich spüre da nur Respekt. Überhaupt fühle ich mich hier wahnsinnig wohl, so wie selten bei einer WM. Es ist toll an der Copacabana, aber auch die Menschen mit ihrer Begeisterung und ihrem Enthusiasmus. Ich habe das Gefühl, dass der Fußball hier, und das hätte ich nie für möglich gehalten, noch eine höhere Bedeutung hat als bei uns. Fußball ist hier noch tiefer verwurzelt, fast ein Teil der Genetik.

Haben Sie denn überhaupt Zeit für Begegnungen mit den Menschen hier?

Kahn Die ersten 14 Tage waren anstrengend. Oli Welke und ich hatten viele Tage mit zehn Stunden Sendung. Aber ich gehe viel joggen an der Copacabana oder schaue den Brasilianern zu, wie sie Futevolei spielen, also Fußball über ein Volleyball-Netz. Der ganze Way of life hier, der zieht einen richtig rein. Da spüre ich die Arbeit nicht mehr.

Haben Sie denn schon einmal mitgespielt?

Kahn Einmal bin ich über den Strand gelaufen und wurde aufgefordert, ich solle mich unbedingt ins Tor stellen. Nein, habe ich gesagt, das mache ich nicht. Aber die haben das ernst gemeint, und haben auf mich eingeredet: Du stellst dich jetzt ins Tor! Nein, sagte ich, ich stelle mich nicht ins Tor - schon gar nicht gegen Brasilianer (lacht).

Sie stehen ja genug während Ihrer Arbeit. Wie viel Eier braucht man eigentlich, um vor über 27 Millionen Menschen zu sprechen?

Kahn (Lacht) Ach, ich weiß nicht, ob man da wirklich Eier braucht. Das ist eine gewisse Erfahrungssache. Ich mache mir da nicht so viele Gedanken. Das Entscheidende ist, dass man eine Meinung hat und diese vertreten kann. Wenn dann noch jemand an deiner Seite steht wie Oliver Welke, mit dem ich auf einer Wellenlänge bin, dann passt das.

Sind Ihnen dann spontane Menschen wie Jürgen Klopp die liebsten Gesprächspartner?

Kahn Natürlich. Mich freut es immer, wenn Jürgen Klopp nach einem Spiel in der Champions League ins Studio kommt, weil ich dann nie so genau weiß, was jetzt passiert. Er ist emotional höchst aufgeladen, genau so wie ich früher. Da spürst du das ganze Adrenalin.

Ihr Kumpel Mehmet Scholl ist ja auch da. Teilen Sie sich hier wie damals beim FC Bayern ein Doppelzimmer?

Kahn Jetzt ist es die Terrasse. Mehmet und ich kennen uns ja noch aus Karlsruher Zeiten, als er noch ein kleiner Kerl mit Popperfrisur war. Dann waren wir 14 Jahre gemeinsam beim FC Bayern, das verbindet. Er macht das bei der ARD auf seine, ich beim ZDF auf meine Art.

Worüber reden Sie auf der Terrasse? Fußball? Mädels?

Kahn Mädels? (lacht) Nein, aus dem Alter sind wir doch raus. Wir sind doch beide verheiratet. Nein, Fußball ist schon das Hauptthema. Er sieht das Spiel als früherer kreativer Spieler aus einem anderen Blickwinkel als ich. Es macht einfach Spaß, mit ihm zu reden. Aber was er hier macht, möchte ich nicht machen müssen. Der latscht da mit seinem Riesenrucksack permanent durch die Gegend. Da bin ich froh, wenn ich mich zwischendurch mal an den Pool legen kann.

Welche neuen Herausforderungen wollen Sie sich denn künftig stellen? Ist eine aktive Rolle im Fußball, etwa als Manager, denkbar?

Kahn Fußball ist doch am allerschönsten, wenn man ihn spielt. Die Aufgabe beim ZDF als Experte lässt sich sehr gut mit meinen unternehmerischen Aktivitäten verbinden. Über etwas anderes denke ich momentan nicht nach.

(sid)
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