Kantersieg im WM-Halbfinale gegen Brasilien Sieben Tore für die Ewigkeit

Belo Horizonte · Vor einem Jahr besiegt Deutschland im WM-Halbfinale Gastgeber Brasilien mit 7:1. Unglaublich, unvergesslich, unwiederholbar.

Deutschland deklassiert Brasilien: Sieben Tore für die Ewigkeit
Foto: dpa, nic

Dieser Tag beginnt in Gelb, in Grün und in Blau. Belo Horizonte, die Bergarbeiterstadt im Südosten von Brasilien, erlebt einen Ansturm von Fans, der es sicher in die Chroniken des Bundesstaats Minas Gerais geschafft hat. Am Morgen bereits belagern tausende von Fußballfreunden das Teamhotel der Brasilianer. Als die Mannschaft drei Stunden vor dem Halbfinale in einem Bus zum Stadion fährt, sieht es an den Straßenrändern aus wie beim Kölner Karnevalszug. Ein ganzes Land bereitet der "Selecao", der Auswahl der Besten, einen Triumphzug.

Später brüllen 50.000 Menschen im Stadion die Nationalhymne mit einer derartigen Inbrunst, dass selbst abgebrühten Sportchronisten die Gänsehaut über den ganzen Körper kriecht. Viele Zuschauer tragen die Pappmaske mit dem Gesicht von Neymar, dem Star, den die Kolumbianer im Viertelfinale vom Platz getreten hatten. Für ihn will Brasilien das große Duell mit Deutschland gewinnen. Die Spieler zeigen sein Trikot. Doch der Tag des geplanten Triumphs wird ein Tag der nationalen Schmach. Gegen eine voller Naivität gegen alle Regeln des modernen Fußballs nach vorn rennende brasilianische Elf spielt die deutsche Mannschaft kühl und nahe an der Perfektion bis zur Pause eine 5:0-Führung heraus. Mit 7:1 gewinnt sie das Halbfinale. Es ist ein Sieg für die Ewigkeit, unwiederholbar, unvergleichlich, eigentlich unmöglich. Im Endspiel wird er durch ein 1:0 nach Verlängerung gegen Argentinien zum Weltmeistertitel veredelt. Ein Jahr ist das her. Nur ein Jahr. Und doch ist es seltsam weit weg.

Sechs Minuten wie Hallenfußball

Es muss an diesem denkwürdigen Verlauf liegen. An diesen unwirklichen sechs Minuten, in denen die Deutschen mit vier Toren auf 5:0 davonziehen, als sie sich fast bis zur Torlinie kombinieren wie beim Hallenfußball, unwiderstehlich, nahezu unbehelligt, in einer ganz anderen Fußballwelt als ihr Gegner. "Diese deutsche Mannschaft hat einen fantastischen Fußball gespielt", sagt Brasiliens Trainer Felipe Scolari, "ich weiß nicht, ob ihr das noch einmal gelingt." Die Deutschen wissen es selbst nicht, während des Spiels nicht, nach dem Spiel nicht und ein Jahr darauf immer noch nicht.

Die Hauptdarsteller tun sich schwer mit der Erinnerung an diese Begegnung, die im rosaroten Nebel irgendwo zwischen zwei Besuchen im legendären Maracana von Rio schwebt — zwischen den 1:0-Siegen im Viertelfinale gegen Frankreich und im Finale gegen Argentinien. Das waren richtige Fußballspiele, mit Unzulänglichkeiten auf beiden Seiten, Kampf, Spannung und Ungewissheiten. In Belo Horizonte ist die Frage nach dem Sieger nach einer halben Stunde schlüssig beantwortet. Publikum und Spieler erleben das alles wie in Trance. Und das Ereignis überholt sich in der Flüchtigkeit des Profisport-Kalenders viel zu schnell. So richtig begreifen werden es die meisten nicht mal mit dem Abstand von vielen Jahren.

Für die Zuschauer fühlt es sich wie 3-D-Kino an. Als das Licht wieder angeht, sind alle wie betäubt. Brasilien hat die schwerste Schlappe seiner Sportgeschichte erlebt, schlimmer noch als die Demütigung durch Uruguay, das 1950 in Maracana den WM-Titel wegschnappte, auf den Brasilien ein natürliches Recht zu haben glaubt. Damals verschlug es 200.000 Menschen im Stadion von Rio die Sprache. Diesmal liegt ein ganzes Land in Schockstarre.

Auf den Tribünen fließen Tränen, für Pfiffe ist die Verzweiflung viel zu groß. Gelegentlich wird die deutsche Mannschaft für ihren brillanten Fußball gefeiert. Und mit großer Aufmerksamkeit wird registriert, wie der künftige Weltmeister mit diesem grandiosen Erfolg umgeht. Natürlich freuen sich die Spieler, und sie erfüllen mit ihren Fans das Ritual der Begeisterungswelle. Aber es gibt kein Triumphgeheul, keine Machogesten. "Überschwängliche Freude hat es in der Kabine nicht gegeben", sagt Bundestrainer Joachim Löw. Stattdessen trösten draußen auf dem Platz die Münchner Spieler ihren Vereinskollegen Dante. Das ist keine verlogene Schauvorstellung, es ist echt. Das kommt an bei den Brasilianern. Sie haben fortan einen neuen Favoriten im Turnier — vor allem, weil es nun gegen die herzlich ungeliebten Argentinier geht.

Aus dem tiefen Tunnel der epischen Niederlage finden die Brasilianer an diesem Abend von Belo Horizonte trotzdem nicht. In den nächsten Tagen mühen sie sich mit Ironie über die Runden. Wo auch immer Deutsche auftauchen, recken die Gastgeber der WM sieben Finger in die Höhe. Sie lachen dabei. Die Frage, wie Deutsche mit so einer Schmach umgehen würden, drängt sich auf. Besonders fröhlich würde die Aufarbeitung nicht ausfallen, so viel steht fest. In Brasilien wird die branchenübliche Personalentscheidung gefällt, der Trainer übernimmt die Verantwortung und tritt zurück. Aus dem Land wird er nicht gejagt. Das Bildungssystem im brasilianischen Fußball wird von den Fachleuten ausgiebig kritisiert. Große Konsequenzen gibt es nicht.

Brasilien hat sich noch nicht erholt

Bis heute hat sich Brasilien von dem grotesken Spiel am 8. Juli 2014 nicht erholt. Die "Selecao" gewinnt auch mit dem kühlen Fußball des neuen Nationaltrainers Carlos Dunga keine Titel — zuletzt schied sie bei der Copa America schon im Viertelfinale aus. Das längst sprichwörtliche "schöne Spiel" (O Jogo Bonito) gelingt ihr immer noch nicht, obwohl die Fans nichts weniger verlangen. Sie schämen sich regelrecht für den nutzwertigen Fußball der Gegenwart. Und sie schämen sich noch mehr für die Ohnmacht ihrer Mannschaft gegen die an diesem Abend außerirdische DFB-Auswahl.

Deswegen endet dieser Tag in Sprachlosigkeit, in Düsternis. Zwei Stunden nach dem Spiel sind die Straßen von der Millionenstadt Belo Horizonte menschenleer. In einer Ecke liegen ein paar Fahnen. Gelb, grün und blau. Aber sie leuchten nicht mehr.

(RP)
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