DFB-Team schwächelt Historische "Lehrstunde": Löws endlos lange Mängelliste

Nach der historischen Niederlage und einer echten "Lehrstunde" war Joachim Löw unnachgiebig wie selten. Die EM-Euphorie des Bundestrainers schien beim 2:3 (1:0) gegen England einen empfindlichen Dämpfer erhalten zu haben.

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Und es bedurfte schon eines erfrischend munteren Blondschopfs, um dem regelrecht geschockt wirkenden Löw an diesem sportlich deprimierenden Abend noch ein herzliches Lachen zu entlocken.

"Herr Löw", fragte der 11-jährige Leonhard, der als Nachwuchsreporter des Projekts Herzenswünsche auf der Pressekonferenz die letzte Frage stellen durfte: "Wie geht man mit so einer Niederlage um?" Löw lachte und wirkte plötzlich gnädig. "Im Test können wir damit mal leben", sagte er zunächst. Doch nach der Übersetzung des Dolmetschers schaltete er sich nochmal ein und ergänzte: "Aber Leonhard, es ist so: Man ärgert sich schon."

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Das war an diesem Abend mehrfach augenscheinlich geworden. Schon am Spielfeldrand hatte der Bundestrainer seinem Unmut deutlich Luft gemacht und bei den anschließenden Interviews hatte er sich entgegen sonstiger Gewohnheit gar nicht erst bemüht, sein Team in Schutz zu nehmen. Nachdem eine deutsche Mannschaft zum ersten Mal in ihrer Geschichte in einem Heimspiel und erst zum dritten Mal überhaupt nach einer 2:0-Führung verloren hatte, haben wohl auch bei Löw in Richtung EM sämtliche Alarmglocken geläutet.

Und es mag ihm in diesem Moment schon in den Sinn gekommen sein, welche Untergangsstimmung in Deutschland aufkommen könnte, wenn sein Team auch den zweiten Härtest am Dienstag (20.45/Live-Ticker) in München gegen Italien verlieren sollte. Als Assistent von Jürgen Klinsmann - der nach einem 1:4 in Italien im März 2006 kurz vor der Entlassung stand, ehe er zum "Architekt des Sommermärchens" wurde - hat er eine ähnliche Situation schon hautnah erlebt.

Und so sprach er im ZDF zunächst von einer "Lehrstunde" und "verdienten Niederlage". Auf dem Podium nach konkreten Schwachpunkten befragt, holte er dann tief Luft und schien selbst gar nicht zu wissen, wo er anfangen und wo er aufhören sollte: Probleme im Spielaufbau, nannte der 56-Jährige, und zwar "über das gesamte Spiel hinweg". Zu wenig Chancen, falsche Laufwege, fehlerhafte Organisation und Kompaktheit oder auch mangelnde Konzentration bei Kontern.

Die scheinbare Endlosigkeit dieser Liste machte vor allem eines klar: Etwas mehr als zwei Monate vor der EM in Frankreich bleibt dem Weltmeister noch eine Menge Arbeit. Nach dem 1:0 durch den starken Toni Kroos (43.) und dem 2:0 durch den noch stärkeren Mario Gomez (57.) hakte das bis dahin insgesamt mäßige Löw-Team das Spiel wohl ab. Und ließ sich von einem erfrischend beherzten Team aus englischen "Grünschnäbeln" - 8 von 13 eingesetzten Spielern hatten weniger als zehn Länderspiele auf dem Buckel - in der letzten halben Stunde regelrecht vorführen. Den Turnaround schaffte der taumelnde Weltmeister nicht. Hätte das Spiel länger gedauert, er hätte sicher mehr Tore kassierte als die von Harry Kane (61.), Jamie Vardy (74.) und Eric Dier (90.+1).

Positiv war, dass nicht nur Löw, sondern auch die Spieler anschließend keine Ausreden suchten. "Heute wurden uns die Augen geöffnet", schimpfte der an diesem Tag als Kapitän agierende Sami Khedira. "Wir haben alle zu wenig gemacht", gestand Thomas Müller, dessen 69. Länderspiel vielleicht sein schlechtestes war. Und auch Gomez, der größte Gewinner unter den Verlierern, stellte klar: "Bei einem Turnier bedeutet ein solches Spiel die Heimreise. Das muss uns klar sein."

Löws einziger positiver Aspekt am Samstagabend war denn auch, "dass es klar ersichtlich wurde, woran wir arbeiten müssen". Es sind viele Baustellen. Die Abwehr war ohne Leader Jerome Boateng und nach der Auswechslung des als Ersatz-Chef diesmal nicht überzeugenden Mats Hummels überfordert. In der Offensive sind die formschwachen Mario Götze, André Schürrle und Lukas Podolski derzeit keine Alternativen. Noch nicht einmal an schwachen Tagen der Platzhalter Mesut Özil, Marco Reus und Müller.

Deutschland - England: Einzelkritik
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Und das Schlimmste: Als das Spiel sich drehte, war niemand da, der es an sich riss. Der das sinkende Schiff wieder auf Kurs brachte - trotz insgesamt neun eingesetzter Weltmeister. Müller tröstete sich damit, "dass wir ein paar Prozent mehr mobilisieren können, wenn es um die Wurscht geht". Ein Ausrufezeichen gegen Italien wäre für die Stimmung im Weltmeister-Land dennoch wichtig.

(sid)
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