Mertesacker und der Leistungsdruck "Ich bin durch"

Düsseldorf · Per Mertesacker hat kurz vor seinem Karriereende schonungslos mit dem Fußball-Geschäft abgerechnet: Der teils unmenschliche Druck habe ihn aufgefressen.

Per Mertesacker – 104 Länderspiele, Arsenal-Profi, Weltmeister
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Das ist Per Mertesacker

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Foto: dpa, hpl

Bloß nicht nachdenken, habe er sich immer wieder zugeredet. "Durchziehen, einfach durchziehen." Denn ansonsten komme man zu der Erkenntnis, dass es überhaupt nicht mehr um Spaß gehe. "Sondern dass du abliefern musst, ohne Wenn und Aber. Selbst wenn du verletzt bist."

Diese Aussage stammt von Per Mertesacker. Fußball-Profi in Diensten von Arsenal London, 104-facher Nationalspieler, Weltmeister von 2014. Mit 1,99 Meter groß wie ein Baum, unerschrocken im Zweikampf, ein nervenstarker Anführer. So ist zumindest das Bild von ihm, das man in der Öffentlichkeit wahrnimmt. Doch nun hat der 33-Jährige kurz vor seinem Karriereende im Mai erstmals einen tiefen Blick in sein Seelenleben erlaubt - und gleichzeitig die Brutalität des Fußball-Geschäfts schonungslos offengelegt.

In einem Interview mit dem "Spiegel" berichtet er von teils unmenschlichem Leistungsdruck, der auf ihm gelastet habe. Und ihm während seiner gesamten Karriere körperlich und mental zugesetzt habe. "Der Druck hat mich aufgefressen. Dieses ständige Horrorszenario, einen Fehler zu machen." Vor jedem seiner 500 Spiele als Profi habe sein Körper gestreikt. Am Morgen habe er immer Durchfall bekommen, wenige Sekunden vor dem Anstoß dann einen starken Brechreiz verspürt. "Mir dreht sich der Magen um, als müsse ich mich übergeben. Ich muss dann einmal so heftig würgen, bis mir die Augen tränen."

Seinen Kopf habe er dann immer zur Seite gedreht, damit ja niemand etwas mitbekommt. Kein Mitspieler, kein Fan, keine TV-Kamera. Bloß keine Schwäche zeigen. Und auch abseits des Platzes hat er aus Scham und auch aus Angst vor beruflichen Konsequenzen seine Probleme verschwiegen. Nun aber, nach 15 Jahren Profifußball, wolle er "für die nachfolgenden Generationen" auch die Schattenseiten des angeblichen Traumberufes ausleuchten. Mertesackers bemerkenswert offene Aussagen geben in der Tat einen anderen Blick auf das Leben eines Profifußballers. Und sie zeigen, dass die Branche aus dem Selbstmord von Robert Enke im Jahr 2009 eigentlich nichts gelernt hat.

"In diesem Job musst du jederzeit bereit sein, deine Gesundheit zu opfern. Nach dem Motto: Leid härtet aus", berichtet Mertesacker. Daher sei eine Verletzungspause mitunter der einzige Weg, eine legitimierte Auszeit zu bekommen. "Alle denken, es wäre ein Drama, wenn du verletzt ausfällst - ist es nicht." Aktuell kann er wegen eines Knorpelschadens im Knie nicht spielen. Aber das ist ihm ganz recht: "Am liebsten sitze ich auf der Bank, noch lieber auf der Tribüne." In seiner Zeit als Profi habe sein Körper mindestens einmal im Jahr gestreikt, sagt Mertesacker. Und er glaubt: "Wenn ich nicht mehr konnte, war ich verletzt, so war es immer. Ich behaupte sogar, dass viele wiederkehrende Verletzungen psychisch bedingt sind. Dass der Körper der Seele damit zur Ruhe verhilft." Aber das hinterfrage sowieso niemand.

Besonders schlimm sei der Druck bei der Heim-WM im Jahr 2006 gewesen. Das sogenannte Sommermärchen war für Mertesacker keines. Es war für ihn eine einzige Qual. Nach dem Ausscheiden im Halbfinale gegen Italien sei er zwar enttäuscht, aber vor allem erleichtert gewesen: "Ich dachte nur: Es ist vorbei, es ist vorbei. Endlich ist es vorbei."

Und auch nach dem Tod seines Freundes Enke, mit dem er gemeinsam bei Hannover 96 spielte, sei er kurz davor gewesen, alles hinzuschmeißen. "Weil eine Woche später alles war wie zuvor." Das ganze Gerede über mehr Menschlichkeit im Fußball? Alles nur schöne Worte.

Doch Mertesacker spielte trotzdem weiter. Aus Liebe zum Spiel, aus Loyalität zum Team. Aus Pflichtgefühl gegenüber jungen Fans, für die man ein Idol sei. "Ich hatte so viel Glück in meinem Leben, das konnte ich nicht einfach aufgeben. Es ist schwer zu erklären, aber es ist wie ein Strudel, aus dem du nicht herauskommst." Mertesacker betont, dass ihm die Privilegien seines Lebens bewusst seien und dass er seinen Lebensweg trotz seiner Probleme nicht bereue. Die Schattenseite will Mertesacker aber nicht länger verschweigen.

Diese Entscheidung hat ihm aber bereits heftige Kritik eingebracht. Rekord-Nationalspieler Lothar Matthäus sagte bei "Sky" voraus, dass sich Mertesacker mit diesem Interview eine Zukunft im Profifußball verbaut habe: "Wie soll er weiter im Fußball tätig sein? Wie will er einem Fußballspieler diese Professionalität vermitteln, wenn er sagt, da ist zu viel Druck? Das geht nicht."

Vielleicht ist Mertesacker aber genau deswegen der richtige Mann dafür. Er soll im Sommer eine leitende Position in der Nachwuchsakademie von Arsenal übernehmen. Und will dann "das System angreifen", den Jugendlichen auch auf dem zweiten Bildungsweg helfen.

Mertesacker freut sich auf sein Karriereende. "Dann werde ich mit über 30 Jahren zum ersten Mal in meinem Leben frei sein." Und er wird erstmals nicht einfach alles nur durchziehen müssen.

(p-m)
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