Neues Statistik-Modell Ex-Profi Reinartz wirbt in der ARD für "Packing"

Düsseldorf · Früher gab es in der Zahlenwelt des Fußball nur einen Gott: das Ergebnis. Mittlerweile ist die vierte Entwicklungsstufe da, was die Benutzung von Statistiken angeht. Das durfte Ex-Profi und Start-up-Unternehmer Stefan Reinartz am Sonntag in der ARD untermauern.

Packing: Stefan Reinartz stellt Statistik-Modell vor
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So funktioniert "Packing"

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Foto: Screenshot ARD

In diesen aufgewühlten Tagen ist es ein wohltuendes Signal, wenn sich die emotionale und die rationale Welt einmal einig sind. Auf der Webseite der Uefa wählten die Fans Toni Kroos zum "Man of the Match" beim 2:0 gegen die Ukraine. Während die Abstimmung noch lief, begrüßten Matthias Opdenhövel und Mehmet Scholl im ARD-Studio einen jungen Mann im sandfarbenen Anzug, der den Eindruck der Massen mit Zahlen untermauerte.

So große Schlagzeilen wie vor zwei Wochen, als er im Alter von erst 27 Jahren seinen Rücktritt erklärte, hat Stefan Reinartz als Aktiver selten produziert, obwohl er es zu insgesamt drei Länderspielen brachte. Jetzt ist er unter die Start-up-Unternehmer gegangen. Mit Jens Hegeler, einem ehemaligen Mitspieler bei Bayer Leverkusen, hat Reinartz die Firma "Impect" gegründet. "Wir haben uns gefragt, warum die gängigen Werte wie Laufleistung und Passquote alle relativ wenig Aussagekraft in Bezug auf das Ergebnis haben", sagte Reinartz am Sonntagabend in der ARD, die ihm unmittelbar nach dem Deutschland-Spiel eine große Bühne gewährte, um für sein Produkt zu werben.

Im Zentrum der neuen Methode steht das sogenannte "Packing". "Das Kriterium ist, dass sich nach einer gelungenen Offensivaktion weniger Gegner zwischen Ball und gegnerischem Tor befinden als vor der Aktion. Diese überspielten Gegner können ihr Tor nicht mehr verteidigen. Sie sind daher gepackt und aus dem Spiel genommen", heißt es auf der "Impect"-Webseite. Bei den überspielten Gegnern lag das DFB-Team mit 391:162 vorne, bei den überspielten Verteidigern — aufgrund der Nähe zum Tor die wertvollere Währung des Packings — mit 52:19. Kroos überragte im Mittelfeld im 114 überspielten Gegnern und zwölf Verteidigern.

So weit, so logisch. "Daran, dass Deutschland deutlich so überlegen war, aber nur 2:0 gewonnen hat, kann man ableiten, dass es am Ende nicht zwingend genug war", sagte Scholl und meinte damit Chancen wie die von Sami Khedira in der ersten Halbzeit. Kroos überspielte mit einem langen Ball neun Ukrainer, so dass Khedira frei vor Torwart Andrij Pjatow auftauchte, im direkten Duell aber den Kürzeren zog. Gute Packing-Werte sind eben oft auch ein uneingelöstes Versprechen.

Allerdings konterkarierten Reinartz und die ARD mit den aktuellen Zahlen ihr Eingangsbeispiel. Sie hatten an Deutschlands 7:1 gegen Brasilien im WM-Halbfinale vor zwei Jahren erinnert, als die Brasilianer mehr Torschüsse abgaben, mehr Ballbesitz hatten und mehr Zweikämpfe gewannen. 84:53 lautete das Verhältnis bei den überspielten Verteidigern aus Sicht des Teams von Joachm Löw, Deutschland ließ also noch mehr zu als die Ukrainer am Sonntag.

"Packing bestätigt Gefühle, die ich nicht statistisch erklären konnte bislang", meinte Scholl. "Dieser Wert wird das Scouting und die Trainingsmethodik verändern. Du kommst auf andere Spieler." Die große Revolution zu wittern, würde jedoch zu weit gehen. "Impect" dürfte eher eine kluge Ergänzung sein. Denn im Fußball spitzt sich das Geschehen wie in kaum einer anderen Sportart auf einzelne Szenen zu. Welches Zahlenmodell soll eine Aktion erfassen, in der ein Spieler wie Jerome Boateng mit seinem Unterleib beinahe ein Eigentor produziert und den Ball letztendlich dank einer koordinativen Meisterleistung von der Linie kratzt?

Nichtsdestotrotz hält gerade die vierte Entwicklungsstufe der Statistik-Benutzung im Fußball Einzug. Einst gab es nur einen Gott — das Ergebnis. In den 90er-Jahren, als "Ran" und Premiere die Berichterstattung grundlegend veränderten, horchten Zuschauer bereits auf, wenn das Torschussverhältnis oder die Ballbesitz-Statistik eingeblendet wurden. Die dritte Stufe kam mit dem Internet. Man haute sich Passquoten und Laufstrecken um die Ohren, oft mit falschen Rückschlüssen auf das Geschehen und noch öfter ohne Spielbezug. Wer es etwas genauer machen wollte, begann schließlich damit, sich anzuschauen, von wo auf dem Spielfeld Torschüsse abgegeben wurden, wer wie viel sprintete und in welche Richtung die ganzen Pässe eigentlich gingen.

Vor geraumer Zeit ist die vierte Republik der Datenanalyse ausgerufen worden, Reinartz und seine Mitstreiter sind allerdings keine Revolutionsführer. Anfang des Jahres bezeichnete "Die Welt" noch "Expected Goals" als "das angesagteste Statistikmodell im Profifußball". Das "Expected Goals"-Model, kurz "xG", misst die Qualität der Torschüsse. Am einfachsten lässt sich das anhand eines Elfmeters erklären. Vom Punkt gehen statistisch gesehen 76 Prozent aller Versuche rein, ein Elfmeter besitzt demnach den Erwartungwert 0,76 für ein Tor. Deutschlands Spiel gegen die Ukraine hätte demnach 1,95:0,43 ausgehen müssen. Rundet man strikt auf und ab, gab es in Lille also ein gerechtes Ergebnis. Dass dies erst in der Nachspielzeit zustandekam, wird hier indes ebenso wenig abgebildet.

Die eine Wahrheit ist also schwer zu identifizieren. Wären wir beim American Football, würde "Impect" sich eher auf die Quarterbacks konzentrieren. "Expected Goals" widmet sich den Vollstreckern. Opdenhövel und Scholl gingen das Thema erstaunlich unkritisch an. Die ARD hätte gut und gerne den Hinweis "Dauerwerbesendung" einblenden können, während Reinartz neun Minuten lang über seine Erfindung dozieren durfte. Nach diesem Auftritt ist der Übergang vom Profigeschäft ins Berufsleben wohl gemeistert.

(jaso)
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