EM-Tagebuch Der letzte Eintrag hallt nach

Die Pariser verbringen eine kostbare Zeit ihres Lebens im Stau und ertragen das gelassen. In Marseille hingegen brodelt es. Doch noch beeindruckender ist der Geist von Evian: Er entschleunigt und macht nachdenklich.

 RP-Sportchef Robert Peters berichtet von der EM in Frankreich.

RP-Sportchef Robert Peters berichtet von der EM in Frankreich.

Foto: Phil Ninh

Meine Europameisterschaft ist jetzt zu Ende. Ich weiß noch, wie sie angefangen hat. Ich saß zu Hause in Rheydt und wartete auf das Taxi, das mich zum Flughafen bringen sollte. Von der bevorstehenden EM war noch nichts zu erkennen. Autos waren noch nicht beflaggt, die einsame Deutschland-Fahne am Fenster auf der anderen Straßenseite hängt da schon viele Jahre. Sie sah schon bei der WM 2014 ein bisschen sehr hell aus - grau, rosa, gelb statt schwarz, rot, gold. Der Geist von Evian hatte auch mich noch nicht ereilt. Es lag alles im Vagen - so wie die Farben der Fahne.

Ich habe dann noch in Düsseldorf drei Stunden im Flugzeug in der Parkposition gesessen, weil ein Gewitter den Abflug verzögerte. Das ist viel Zeit zum Nachdenken, die EM kam dabei nicht vor. Sie ist insgesamt wohl eher langsam in Fahrt gekommen, nicht nur für mich. Ich darf mich also für ein fußballeuropäisches Gesamtkunstwerk halten. So viel Selbstbewusstsein muss ja wohl sein.

Was bleibt, sind gemischte Gefühle. Die Franzosen haben es zwar geschafft, nicht überall den Eindruck einer Veranstaltung im Hochsicherheitstrakt aufkommen zu lassen, völlig vermeiden konnten sie es nicht. Spätestens als ich zum ersten Mal im Bahnhof zehn Minuten neben einem wirklich bis an die Zähne bewaffneten Soldaten stand, war klar: Das wird jetzt nicht der reine Spaß. Und als in Marseille und Lille Hooligans aus Deutschland, Russland und England mit ihrer eigenen Europameisterschaft begannen, schien das doch auf eine traurige Schiene zu geraten.

Das hat sich sehr geändert. Die Hooligans haben wahrscheinlich den Regen nicht vertragen, vielleicht sind sie auch mit großem Nachdruck vertrieben worden. Sie spielten jedenfalls nach den ersten Tagen keine Rolle mehr.

Ich habe das Land von Evian aus kennengelernt. Evian liegt mehr in der Schweiz als in Frankreich, deshalb sind viele Exkursionen nach Frankreich über Genf gestartet worden. Die Hotels am Seeufer könnte ich den Namen nach in ihrer Reihenfolge bis zum oder vom Bahnhof her aufsagen. Ich kenne die Fontäne am Seeufer, den Strand von Genf und die Kreisverkehre auf dem Weg in die Berge, den einen mit dem großen Fisch fand ich am besten. Ich weiß, wo die Abfahrt zur Autobahn ist, bis Lyon müsste ich nie mehr ein Navi zum Einsatz bringen - das heißt etwas für einen, der sich noch in einer gut ausgeschilderten Telefonzelle verlaufen könnte.

Bei unseren Ausflügen nach Fußball-Europa habe ich gemerkt, dass es doch ein sehr großes Land ist. Ich bin in Schnellzügen durchgerauscht, mit Flugzeugen drüber geflogen, im Bus und im Auto gemütlicher langgegondelt. Es hat immer gedauert.

Ich fand die Staus von Paris beeindruckend. Noch beeindruckender fand ich die Ruhe der Pariser. Sie stehen ziemlich sicher ihr halbes Berufsleben irgendwo auf einer achtspurigen Straße herum, aber sie nehmen es hin. Es ist die Natur ihrer Stadt. Manche habe ich bei mehreren Besuchen in der Hauptstadt wiedererkannt. Davon bin ich zumindest überzeugt.

Evian ist so etwas wie meine geliehene Heimat geworden. In einem Monat abzüglich der Ausflüge ins Großstadtleben habe ich Evians Herzschlag aufgenommen. Er geht ziemlich langsam, ungefähr in der Nähe des Ruhepuls von Toni Kroos - also bei 40 bis 50 Schlägen in der Minute.

In Evian ist alles entschleunigt - so wie man das von den Bernern in der Schweiz sagt. Die Evianesen haben sich viel Mühe mit der eingefallenen Horde von Sportreportern gegeben. Am Ende hat fast niemand mehr genörgelt. Das heißt etwas bei beruflichen Besserwissern.

Eine richtige Fußballparty habe ich nur in Marseille erlebt, in diesem rotbraunen, hitzigen, brodelnden Moloch am Mittelmeer. Womöglich bringt die Temperatur die Menschen so ins Glühen. Das ist übrigens das Lieblingswort von Mesut Özil geworden, das habe ich mir gemerkt. Er ist ein Teil in dieser Vermarktungsmaschine Fußball, und er sitzt an einem sehr feinen Ende der Nahrungskette.

Ein bisschen gehöre ich auch zu der Vermarktungsmaschine, ob ich will oder nicht. Das macht mich nachdenklich auf dem Weg nach Hause.

Vielleicht hat mich der Geist von Evian doch noch berührt. Das wäre ja nicht schlecht.

(RP)
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