EM-Kolumne Europa hat zu wenig Dribbelkünstler

Düsseldorf · Viele EM-Teams verteidigen nicht mehr raum- sondern mannorientiert. Nur wenigen Teams gelingt es, diese Mannorientierungen des Gegners zu knacken - auch, weil es vielen Mannschaften an dribbelstarken Spielern mangelt.

Man of the Match der EURO 2016: Die Spieler des Spiels
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Die Spieler des Spiels

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Foto: afp

Christoph Daum nannte Weltmeisterschaften einst "Weltausstellungen des Fußballs". Die Nationen präsentieren bei großen Turnieren taktische und spielerische Trends. Die WM 2014 markierte beispielsweise die endgültige Rückkehr der Dreierkette auf die Bühne des Weltfußballs.

Die Europameisterschaft offenbarte in den ersten Wochen ebenfalls einen taktischen Trend: Viele Teams verteidigen nicht mehr im Raum, sondern am Mann. Das Wort "Mannorientierung" gehört zu den Lieblingsbegriffen vieler Fußballkommentatoren. Es bedeutet nichts anderes, als dass die Verteidiger ihre Gegenspieler eng decken, anstatt im Raum zu verteidigen.

Das hört sich zunächst einmal so an, als entwickle sich der Fußball um dreißig Jahre zurück. Alles, was grob nach Manndeckung klingt, hat in Deutschland einen miefigen Ruf, seit Erich Ribbecks Nationalelf 2000 mit Libero und Manndeckung in der Vorrunde ausschied. Allerdings sind die Begriffe Manndeckung und Mannorientierung nicht synonym. In einer Manndeckung verfolgt der Verteidiger seinen fest zugeteilten Gegenspieler. Bei einer Mannorientierung verteidigen die Spieler weiter im Raum. Jeder hat seine Zone, die er verteidigen muss. Nur werden die gegnerischen Spieler innerhalb dieser Zone eng verfolgt. Es geht nicht mehr darum, die korrekten Abstände innerhalb der Abwehr- und Mittelfeldkette zu halten, sondern jedem Gegenspieler einen Verteidiger zuzuordnen.

Bei dieser EM kehren viele Nationen zur Mannorientierung zurück. Voran geht Überraschungs-Achtelfinalist Ungarn mit einer sehr starken Mannorientierung. Aber auch die Polen, Portugiesen und die Schweizer decken ihre Gegner eng. Selbst die deutsche Mannschaft verfolgt im eigenen Pressing die gegnerischen Mittelfeldspieler. Das Gegenstück, das reine Verschieben im Raum, betreiben bei diesem Turnier nur die Defensivkünstler aus Italien. Dabei war dies bis vor wenigen Jahren noch der absolute Standard.

Woher kommt dieser Trend zur Mannorientierung? Über Mannorientierungen lassen sich feste Zuordnungen erreichen. Jeder Gegenspieler ist gedeckt, es gibt dadurch meist keine Anspielstation für den ballführenden Spieler. Die Mannorientierungen ließen sich nur umspielen, wenn sich die Offensive viel bewegt. Ein Beispiel: Der Außenstürmer startet plötzlich in die Mitte. Wenn der gegnerische Außenverteidiger nicht aufpasst, und zu lange den Außenstürmer verfolgt, tun sich Lücken auf, in die der Außenverteidiger hineinstoßen könnte. Nur: Kaum ein Nationalteam hat derart gut abgestimmte Laufwege, als dass sie solche Lücken provozieren und ausnutzen könnten.

Der zweite Grund für Mannorientierung: Europa hat zu wenig Dribbelkünstler. Ein gelungenes Dribbling ist der einfachste Weg, Mannorientierungen zu knacken. Wenn jeder Gegner einen Angreifer deckt, genügt es oft, seinen eigenen Gegenspieler zu narren. Daraufhin müsste ein anderer Verteidiger herausrücken, um den Dribbler zu stellen, und könnte seinen eigenen Gegenspieler nicht mehr decken. Ein freier Mitspieler ist die Folge. Doch nicht nur dem DFB-Team fehlt ein Dribbler, der ein, zwei Gegner stehenlassen kann. Auch England, Frankreich oder Österreich haben mit diesem Problem zu kämpfen.

Auch das ist ein Grund, warum bei dieser EM so wenige Tore fallen.

Tobias Escher (28) ist Taktik-Experte. Er betreibt die Internetseite spielverlagerung.de, auf der er mit seinen Mitstreitern regelmäßig wichtige Spielzüge im Profifußball erklärt.

(RP)
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