EM-Tagebuch Berg und Tal

Evians · Das Quartier der deutschen Nationalmannschaft in Evian stellt einen gebürtigen Niederrheiner vor große Herausforderungen. Immerhin sind Schweinsteiger und Co. dort oben bestens geschützt vor gegnerischen Geheimdiensten.

 RP-Sportchef Robert Peters.

RP-Sportchef Robert Peters.

Foto: Phil Ninh

Aus den Höhen seiner Trutzburg in Evian-les-Bains schaut der deutsche Fußball-Adel den Berg hinunter auf die Stadt und auf den Genfersee. Das muss ein gutes Gefühl sein. Selbst der Ausblick vom Trainingsplatz hat es in sich. La Mannschaft sieht den See, am anderen Ufer Lausanne. Und damit sie nicht zu sehr abgelenkt wird von all der Idylle, haben ihre freundlichen und in jeder Hinsicht zuvorkommenden Sponsoren den Zaun mit zauberhaft bunten Werbeschildchen gepflastert. So kommt der Profi schnell wieder in den Geschäftsbetrieb.

Außerdem ist der Zaun ziemlich hoch. Damit werden neben der Belebung werbewirtschaftlicher Beziehungen zum zahlenden Volk zwei extrem wichtige taktische Aufgaben zur vollsten Zufriedenheit der Erziehungsberechtigten von la Mannschaft erledigt. Erstens: Nicht jeder kann sogleich die größten deutschen Geheimnisse beim Eckstoß oder Einwurf den überall lauernden gegnerischen Geheimdiensten enthüllen. Zweitens: Es wird verhindert, dass der Ball nach allzu mutigen Diagonalpässen der Herren Boateng, Schweinsteiger und Kroos die Fähre auf dem Weg in die Schweiz trifft oder eines der vielen Baulöcher im Hang fremdverfüllt.

Hier oben ist es trotzdem ein bisschen einsam, wenn nicht gerade la Mannschaft übt oder ich ganz allgemein das tue, weshalb ich hier bin. Wie jede anständige Arbeit führt das irgendwann zuverlässig zu ebenso anständigen Hungerattacken. Vor deren Bewältigung hat der französische Fußballgott allerdings den Abstieg ins Tal gesetzt. An dieser Stelle muss ich ein Geständnis ablegen: Die Einsicht in die Geografie des Ortes, an dem ich nun vier Wochen leben werde, war mir bei der Buchung meines vorübergehenden Erstwohnsitzes nicht so recht gegeben.

Landkarten haben die verheerende Eigenschaft, das Dreidimensionale nicht in vollem Umfang zum Ausdruck zu bringen. Und der Niederrheiner an sich stellt sich die Welt in der Regel schön flach vor. Wo ich herkomme, besteht die bemerkenswerteste Erhebung aus einer Endmoräne, die von der letzten Eiszeit übriggeblieben ist. Sie ist vielleicht 30 Meter hoch, und wir nennen sie ehrfurchtsvoll den Gocher Berg. Höhere Berge liegen außerhalb meiner Vorstellungskraft. Deshalb sitz' ich nun weit oben, kann zwar mit vornehmer Miene auf den See blicken wie Boateng beim Frühstück, muss jedoch zum Essen tief ins Tal und - schlimmer - danach wieder rauf.

Das hat aber auch sein Gutes. Spätestens Ende Juni laufe ich den Berg rauf wie die Einheimischen, die mich jetzt noch voller Mitleid betrachten, wenn ich schnaufend wie die Nostalgie-Eisenbahn, die das Fremdenverkehrsamt zu den zehn bedeutendsten Sehenswürdigkeiten von Evian zählt, emporkrieche. Vielleicht gehe ich bald als elfte Sehenswürdigkeit in die jüngere Ortsgeschichte ein. Auch Lachnummern haben ja ihren Reiz.

(RP)
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