EM-Tagebuch Ein Tag mit der Seilbahn - ganz ohne Jogis Jungs

Ob der Bundestrainer nun die Nase voll hatte von seiner Truppe oder nur seine schönsten Werbespots vor dem Spiegel nachspielen wollte: Den freien Tag, den er La Mannschaft gab, hat jedenfalls auch unser Autor genossen.

Ein Tag mit der Seilbahn - ganz ohne Jogis Jungs
Foto: Phil Ninh

Jogi Löw hat seinen Jungs einen freien Tag spendiert. Wahrscheinlich konnte er sie nicht mehr sehen. Vielleicht ist ihm auf die Nerven gegangen, dass Julian Draxler schon im Bus von La Mannschaft über die blöden Verteidiger genölt hat, die ihm ständig auf den teuren Füßen stehen. Es kann auch sein, dass ihn Mesut Özils schleppender Gang und dessen deprimierter Gesichtsausdruck an zu viele schlechte Dinge in der bösen Fußballwelt erinnert haben. Und es ist nicht ausgeschlossen, dass der Bundestrainer nicht schon beim Mittagessen von Thomas Müller mit tausend Fragen zum Training von übermorgen, zum möglichen Gegner im Achtelfinale und zur Zusammensetzung des Nachtischs gelöchert werden wollte.

Jogi Löw wollte einfach seine Ruhe haben, mal ganz entspannt vor dem Spiegel die schönsten Nivea-Werbespots nachspielen, gründlich über die Garderobe zum nächsten öffentlichen Auftritt nachdenken und am späten Nachmittag ein wenig herumjoggen, wenn die Kollegen aus der Marketing-Abteilung bis dahin ein Fernsehteam aufgetrieben haben.

Ich schließ' mich gern an und genieße einen Tag ohne La Mannschaft. Und ich geh' von vornherein viel entspannter rein als Jogi Löw. Schließlich habe ich bislang weder Thomas Müller die Kommaregeln erklären noch Mesut Özil in Haltungsfragen beraten müssen. Julian Draxler ist mir bisher allenfalls in den Begegnungszonen der Stadien über den Weg gelaufen, und er wird sich sicher nie bei mir über blöde Verteidiger ausheulen. So viel Realitätssinn muss einfach sein.

Nivea-Filmchen spiele ich ohnehin grundsätzlich nicht nach. Der Blick in den Spiegel belehrt mich im besten Fall darüber, dass dem unkontrollierbar sprießenden Bart mal dringend der Rasierer gezeigt werden muss.

Unser Örtchen Evian-les-Bains begrüßt mich für ein paar Stündchen mit einem freundlichen Gesicht. Wahrscheinlich hat der Regengott, der zu den einflussreichsten Gottheiten der Region zählt, heute ebenfalls frei, und er ist mit seiner alten Freundin, der Gewitter-Hexe, zum Kaffeetrinken ins benachbarte Ausland gefahren. In der Schweiz knistert es jedenfalls vernehmlich über den Bergen.

Meine Berge bewältige ich heute mal mit Hilfe der Seilbahn, Funiculaire nennen sie die. Sie erspart mir nicht nur den für niederrheinische Horinzontal-Alpinisten schmerzhaften Aufstieg, sie atmet auch den Geist der vermeintlich guten, auf jeden Fall alten Zeit.

Das Bähnchen stammt aus der vorletzten Jahrhundert-Wende, und es ist für den Betrieb in der Neuzeit noch mal fit gemacht worden. Es startet fast am Seeufer in einem prächtigen kleinen Bahnhof. Gut hundert Meter geht es unter der Erde lang, dann öffnet sich der Tunnel und gemütlich rappeln wir den Berg hinauf.

Ich starre ausgiebig aus dem Fenster, ob ich nicht irgendwelche bedauernswerten Kletterer auf den Straßen entdecken kann. Leider nicht, trotzdem empfinde ich leise Schadenfreude für alle, die jetzt nicht im Bähnchen sitzen. Fünf Stationen bewältigt das Vehikel, die Bergstation im Ortsteil Neuvecelle liegt ziemlich weit über und ziemlich weit abseits meiner eigenen Bergstation in der Nähe des Trainingsplatzes von La Mannschaft.

Deshalb fahre ich gleich wieder runter zum See. Das könnte ich den ganzen Tag tun, denn es kostet nichts. Das heißt: Ich könnte es nicht den ganzen Tag tun, wenn man bereit ist, ein paar Abendstunden großzügig zum Tag hinzuzurechnen. Gegen 19 Uhr ist nämlich Schichtende für die Bahn. Spätere Besuche in den höheren Regionen dienen weiterhin der Stärkung der Wadenmuskulatur. Dagegen kann ja nun auch niemand was haben.

Unten am See bestaune ich die Villa Lumière, in der ganz früher die Erfinder des Kinos wohnten, und vielleicht schaff' ich es demnächst mal zur Ausstellung mit Arbeiten des Malers Albert Besnard hinein. Dazu müssen allerdings zwei Bedingungen erfüllt werden. La Mannschaft müsste ins Halbfinale kommen, und Jogi Löw müsste einen weiteren freien Tag gewähren. Die Ausstellung beginnt nämlich erst am 2. Juli.

Ich hätte nichts dagegen, mich als kunstsinniges Kerlchen auszugeben, wenn Thomas Müller wieder tausend Fragen nach dem Training, dem Essen oder dem Wetter gestellt hat und wenn Jogi Löw Nivea-Werbespots nachspielen will.

(RP)
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