EM-Nostalgie als Therapie Trauerarbeit auf Holländisch

Amsterdam · Ganz Europa ist im Fußball-Fieber. Ganz Europa? In einem kleinen Land im Nordwesten herrscht Trauer. Was machen die Holländer eigentlich zur EM?

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Foto: Screenshot Twitter

"Wunderbares Kunststückchen" so bejubelte die niederländische Zeitung "De Telegraaf" in dieser Woche den Einzug der Niederlande ins Halbfinale. Huch? - Nein, die größte Zeitung der Niederlande irrte sich nicht. Der Jubel galt dem Oranje-Erfolg vor 18 Jahren bei der Fußball-Weltmeisterschaft in Frankreich. Das ist Trauerarbeit auf holländisch.

Täglich versucht das Blatt - wie übrigens viele andere auch - mit Artikeln über ruhmreiche Spiele der niederländischen Nationalmannschaft aus der Vergangenheit das "Oranjegefühl ein kleines bisschen wieder aufleben" zu lassen.

Seit drei Wochen sind die Holländer nur Zaungäste der Europameisterschaft in Frankreich und ertragen Schmach und Spott. Sogar im eigenen Land: Etwa wenn deutsche Touristen mit einem fröhlichen "Ohne Holland fahr'n wir zur EM" auf den Lippen zum Strand ziehen.

Doch trotz aller Nostalgie-Therapie - das echte Fußball-Fieber will nicht aufkommen. Straßen und Kneipen sind öde, Geschäfte locken nicht mit Fußball-Werbeaktionen. Statt der traditionellen Fußballbildchen animiert zum Beispiel die größte Supermarktkette die Kunden mit Dinosaurier-Bildern zum Kauf von Bier und Chips. Dinos statt Arjen Robben und Robin van Persie? Das ist bitter.

Die echten Fußball-Liebhaber sehen zwar die Europameisterschaft zu Hause oder in den Kneipen. 3,5 Millionen Menschen verfolgten etwa den Elfmeter-Krimi Deutschland gegen Italien. Ein Zuschauerrekord. Aber das echte EM-Gefühl kommt natürlich erst auf, wenn man mit der "eigenen Mannschaft" mitfiebern kann.

Erst drückten die Niederländer Belgien die Daumen. Die Nachbarn gelten ohnehin seit der Abspaltung vom Königreich 1830 als eine Art "Reserve-Niederländer". Nach dem Ausscheiden der "Roten Teufel" gegen Wales aber und dann dem Abgang der Publikumslieblinge aus Island stellt sich nun die große Frage: Wem gönnen die Holländer den Titel?

Für Oranje-Star Arjen Robben ist die Sache klar: Er drückt der deutschen Mannschaft die Daumen. "Ich hoffe für die Jungs, dass sie es schaffen und wieder ins Finale kommen, aber es wird schwer", sagte der Stürmer des FC Bayern München mehreren Münchener Medien.

Und er ist nicht der einzige niederländische Deutschland-Fan. "Jetzt sind wir für Deutschland", sagt etwa der Amsterdamer Student Marten Visser. "Ist doch klar. Portugal mag keiner, Frankreich ist auch nicht so geliebt." Denn dass der Außenseiter Wales weiterkommt, daran glaubt kaum einer.

Auch die Experten in den allabendlichen EM-Shows im Fernsehen diskutieren besorgt das Verletzungspech der Deutschen und orakeln über die Taktik von Joachim Löw, als wäre es der eigene bondscoach.

Bilder aus der ruhmreichen Oranje-Vergangenheit haben in diesen Tagen Hochkonjunktur. Absoluter Hit ist die EM von 1988, als Oranje in Deutschland seinen ersten Turniersieg feierte. Dabei war nicht das Finale gegen die Sowjetunion der eigentliche Triumph, sondern der Halbfinalsieg gegen Deutschland - die Revanche für das verlorene WM-Finale von 1974.

Heute hat sich die Stimmung total gedreht. Niederländer mögen die Deutschen und sogar ihren Fußball. Das zeigte sich schon beim WM-Finale 2014 in Brasilien: Damals unterstützten mehr als 80 Prozent der Niederländer die Mannschaft von Bundestrainer Joachim Löw und nicht etwa Argentinien - obwohl doch ihre eigene Königin Máxima aus diesem Land stammt.

(seeg/dpa)
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