Defensiv nach Luft nach oben Draxlers Spiel ist spektakulärer als seine Worte

Evian-les-Bains · Manchmal vergisst man, dass Julian Draxler erst 22 ist. Denn er ist doch schon so lange dabei. Er ist Weltmeister, obwohl er in Brasilien nur ein Viertelstündchen mitwirken durfte, allerdings im Jahrhundertspiel im Halbfinale gegen die Gastgeber.

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Foto: ap, AF FP FAS

Er hat bei seinem Wechsel zum VfL Wolfsburg dafür gesorgt, dass sein ehemaliger Verein Schalke 04 "die größte wirtschaftliche Einnahme durch einen Transfer" feiern durfte. Für mindestens 35 Millionen Euro und ein paar eingebaute Sonderzahlungen bis zu sieben Millionen oben drauf wechselte er vor einem Jahr das Trikot.

Und es scheint Ewigkeiten her, dass sein damaliger Trainer dem gerade 17-Jährigen empfahl, die Schule für den Fußball sausen zu lassen. Draxler hat sich von Felix Magath nicht drängen lassen. Trotz der Doppelbelastung zwischen Schulbank und Trainingsplatz machte er sein Fachabitur, und er schaffte es schnell nach oben im Fußball. So schnell, dass er inzwischen ein paar bedeutende Rückschläge in seiner jungen und doch so langen Laufbahn hinnehmen musste. Die ersten großen Zweifler fingen bereits an, die blöde Geschichte vom ewigen Talent zu erzählen.

Draxler ist bei der Nationalmannschaft aus dem eigenen Schatten getreten. Nach eher zaghaften Auftritten in den Gruppenspielen, die ihn zu Recht auf die Bank zurück brachten, kam im Achtelfinale gegen die Slowakei der Durchbruch. Er spielte sehr beweglich, sehr auffällig, schoss ein Tor, bereitete eines vor und machte die Abwehr mit seinen Dribblings ziemlich verrückt. "Es war der Auftrag des Bundestrainers, die 1:1-Situationen zu suchen", erklärte er.

Auftrag erfüllt. Mehr Regung gönnte er sich nicht. Und auch seine Freude über dieses Spiel war eher innerlich. Er sprach artige Sätze, wie sie in der Anstandsfibel des Verbands aufbewahrt sein könnten. Er sagte: "Ich bin froh, gut gespielt zu haben. Ich wollte dem Team helfen, es war eine neue Möglichkeit für mich." Er sagte: "Ich freue mich, dass es ein gutes Spiel war, ob es mein bestes für die Nationalmannschaft war, müssen andere beurteilen." Und er sagte: "Wir haben ein gut veranlagte Mannschaft, da macht es nichts, mal nicht zu spielen."

Sein Spiel ist viel spektakulärer. Er kann wie wenige andere auf dem Kontinent in hohem Tempo den Ball kontrollieren, und er stellt dann manchmal Sachen mit ihm an, die selbst erfahrene Kollegen in Staunen versetzen. "Er hat ein ganz feines Füßchen", erklärte Mario Gomez, der in seinem langen Fußballerleben schon an der Seite von Franck Ribéry, Arjen Robben und anderen Zauberkünstlern gespielt hat.

Draxler ist auf dem Weg, ein ganz eigener, unverwechselbarer Typ zu werden. Das liegt an seiner Beweglichkeit. Manchmal windet er sich wie ein Tänzer um seine Gegner, und in seinen besten Momenten lässt er Abwehrspieler reichlich tapsig aussehen. Obwohl sie in der gläsernen neuen Fußballwelt seinen Lieblingstrick sicher ausgiebig studiert haben, fallen sie doch immer wieder darauf herein.

Draxlers Standardbewegung geht so: Er läuft auf den Gegner zu, zieht den rechten Fuß in einem Bogen über den Ball, führt den Ball mit dem anderen Fuß in die Gegenrichtung, dazu beugt er den Körper dahin, wo der Ball nun doch nicht hinrollt. Die Fachleute nennen den Standard "Übersteiger". Draxler beherrscht die kleine Übung mit beiden Füßen, das macht sie für die Gegner noch verheerender. Sie gehen die Täuschungsbewegung mit, und dann ist Draxler schon weg. Gegen die Slowaken gab es eine eindrucksvolle Aufführung dieses Kunststücks. Der deutsche Offensivspieler drehte seinen Gegenspieler Juraj Kucka derart ein, dass der beinahe auf dem Hosenboden gelandet wäre, zog zur Grundlinie und legte Gomez den Ball fürs 2:0 vor. Eine perfekte Mischung aus Kunst und Effektivität.

Ein paar Minuten vor diesem Glanzstück war auf der anderen Seite des Stadions von Lille noch der andere Draxler zu besichtigen, jenes zarte Kerlchen, das in den Gruppenspielen häufiger mal auftrat. Da stellte er sich reichlich desinteressiert dem Flankenversuch von Kucka zur Seite. Das forderte Manuel Neuer zu einer Parade heraus, wie sie vielleicht nur Manuel Neuer beherrscht. Mit einem englischen Torwart hätten die Deutschen wohl den Ausgleich hingenommen.

Die Anfälle von defensivem Desinteresse haben Draxlers Trainer gern mal zum Anlass kleiner Wutausbrüche genommen. Bevor sich Löw in Lille dazu aufmachen konnte, hatte der Spieler die Geschichte vorn korrigiert. Und er fand sich schließlich auch zu energischerer Mitarbeit am Mannschaftsprodukt Abwehrspiel bereit. So engagiert, dass Löw feststellen durfte: "Draxler hat sehr gut gearbeitet, damit bin ich sehr zufrieden." Es war der Moment, in dem Draxler dem Stammplatz ganz nah kam. Dem Stammplatz im Viertelfinale heute Abend gegen Italien.

(pet)
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