DFB-Team residiert in Evian-Les-Bains Ein Ort, um Geschichte zu schreiben

Evian-Les-Bains · Idyllisch liegt der noble Kurort Evian-Les-Bains am Genfer See. Wegen seiner Ruhe hat die deutsche Nationalmannschaft die französische Kleinstadt als Standort während der EM ausgesucht, doch Evian hat auch unruhige Zeiten hinter sich.

EM 2016: Im Hotel Ermitage residiert das DFB-Team in Frankreich
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Hier residiert der DFB-Tross

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Foto: Hotel Ermitage

Im Sommer 1938 fand dort eine Flüchtlingskonferenz statt, die in ihrem Ablauf auf traurige Weise heute wieder aktuell ist. Vertreter von 32 Staaten trafen sich auf Initiative von US-Präsident Franklin D. Roosevelt im Luxushotel Royal, gegenüber dem Mannschaftsquartier der deutschen Elf, um sich auf ein Programm zur Emigration der verfolgten deutschen und österreichischen Juden zu einigen. Allerdings war kein Land bereit, sich auf die Aufnahme einer festen Zahl von Flüchtlingen festzulegen.

"Die meisten vertretenen Länder reagierten prompt, indem sie ihre Türen vor den jüdischen Flüchtlingen verschlossen", schrieb das Magazin "Newsweek". Am deutlichsten war der britische Vertreter, der sagte: "Das Vereinigte Königreich ist kein Einwanderungsland." Auch die USA wollten ihre Flüchtlingsquote von 27.370 Einwanderern jährlich aus Deutschland und Österreich nicht erhöhen. Heraus kam bei dem Treffen lediglich die Gründung eines internationalen Komitees. "Eine historische Schande der zivilisierten Welt" nennt der Historiker Wolfgang Benz die Konferenz, die Evian traurige Berühmtheit brachte.

In der Kleinstadt, die zum Tagungsort wurde, weil die Schweiz die Organisation der Konferenz ablehnte, spricht heute keiner mehr von dem Treffen. Das noble Hotel Royal erwähnt in seinen Broschüren gerne, dass dort schon mehrere internationale Konferenzen stattfanden wie beispielsweise der G-8-Gipfel 2003. Von der internationalen Flüchtlingskonferenz ist allerdings nicht die Rede. Auch Stadtführer Thierry Dutruel bleibt kurz angebunden und vage: "Vor dem Zweiten Weltkrieg spielte Evian eine wichtige Rolle für die Flüchtlinge. Es ging um ihre Verteilung."

Lieber spricht Dutruel von einem anderen historischen Ereignis, für das der Kurort heute noch in aller Munde ist: die Verträge von Evian, die Algerien 1962 in die Unabhängigkeit von Frankreich führten. Schon vor Beginn der Gespräche wurde die für ihr Mineralwasser bekannte Stadt zum Nebenschauplatz der Auseinandersetzungen. In der Nacht zum 31. März 1961 ließen algerische Rechtsextremisten der Organisation de l'Armée Secrète (OAS) eine Bombe hochgehen, die Bürgermeister Camille Blanc tötete.

Der Sozialist hatte sich dazu bereit erklärt, in seiner Gemeinde Gespräche zwischen der französischen Regierung und den für Unabhängigkeit kämpfenden Rebellen der algerischen nationalen Befreiungsfront FLN abzuhalten. Die OAS, die für den Verbleib Algeriens bei Frankreich eintrat, wehrte sich gegen den Dialog. Für den war Evian wegen seiner Nähe zur Schweiz ausgesucht worden, denn die algerische Delegation wollte nicht in Frankreich schlafen. Sie übernachtete deshalb in Lausanne auf der anderen Seite des Genfer Sees. "Sie kamen jeden Tag mit dem Schiff oder dem Hubschrauber zu den Verhandlungen angereist", berichtet Dutruel.

Eine erste Gesprächsrunde begann trotz des Attentats am 20. Mai 1961. Den Erfolg brachte aber ein zweiter Anlauf, der am 7. März 1962 im Hotel du Parc begann, das inzwischen ein Appartementkomplex ist. Heraus kamen nach elf Verhandlungstagen die heute noch viel zitierten Verträge von Evian, die mit einem Waffenstillstand den Algerienkrieg beendeten. Mit der Unterzeichnung am 18. März endete ein fast acht Jahre dauernder Konflikt mit hunderttausenden Toten, doch das Gedenken an das historische Datum ist heute noch umstritten.

Denn mit dem 93 Seiten langen Vertragswerk war der Algerien-Krieg lediglich auf dem Papier zu Ende. Es folgten Massaker an zehntausenden mit der französischen Armee verbündeten Harkis, die Flucht der Algerien-Franzosen und neue Anschläge. Deshalb wehren sich die Algerien-Franzosen, unterstützt von den Rechtskonservativen und Nationalisten, gegen die Gedenkfeiern zum Tag des Waffenstillstands am 19. März. Jahrelang hatte die französische Staatsspitze das Datum offiziell ignoriert, bis in diesem Jahr Präsident François Hollande erstmals an einer Zeremonie teilnahm. "Wer dem Krieg um das Gedenken neue Nahrung gibt, bleibt in der Vergangenheit hängen", gab der Staatschef seinen Kritikern mit auf den Weg.

(RP)
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