"So kommen wir nicht weit" Boss Boateng legt den Finger in die Wunde

Düsseldorf · Jerome Boateng nahm kein Blatt vor den Mund. Er kritisierte, mahnte, ging mit der eigenen Mannschaft hart ins Gericht. Es war in gewisser Weise ein ungewohntes Bild, wie der der deutsche Abwehrchef nach dem 0:0 im zweiten EM-Gruppenspiel gegen Polen den Chefkritiker gab, den Finger in die Wunde legt. Schonungslos, dabei aber sehr aufgeräumt, pointiert und nüchtern.

Jerome Boateng rettet gegen Robert Lewandowski mit "Heldengrätsche"
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Boateng blockt Schuss von Lewandowski mit "Heldengrätsche"

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Ein Lautsprecher war der 27-Jährige nie, ein krasser Gegensatz zu seinem Halbbruder Kevin-Prince, der einen anderen Ansatz verfolgt, der von seiner natürlichen Ausstrahlung her schon der Typ Anführer ist, dabei aber eher die Marke polternder Proll.

Jerome Boateng ist weniger Badboy, dafür mehr Boss, durch seine Aura des in sich ruhenden Routiniers, der fast ein wenig schüchtern wirkt, wenn ihm der Kragen platzt. Man mag ihn in diesen Momenten beinahe in den Arm nehmen.

EM 2016: Jerome Boateng rettet artistisch auf der Linie
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Boateng rettet artistisch auf der Linie

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Foto: dpa, ks

"Die Bewegung hat gefehlt"

"Wir haben vorne kein Eins-gegen-Eins gewonnen, die Bewegung hat gefehlt. Das muss sich verbessern, sonst kommen wir nicht weit", hatte Boateng im ersten Interview kurz nach dem Spiel erklärt. Öffentliche Kritik an den eigenen Leuten ist eigentlich verpönt, auch wenn sie angebracht ist. Man kann fest davon ausgehen, dass Boateng sie intern wiederholen wird.

Denn wer Leistung abliefert, der darf das. Dem hört man auch zu. Boateng hat mit seinem Auftritt gegen die Polen den Status als unumstrittener Abwehrboss, als Leader weiter untermauert. Wie er in der 59. Minute mit einer mal wieder perfekt getimten Monster- oder "Heldengrätsche" (TV-Kommentator Oliver Schmidt) seinen Münchner Teamkollegen Robert Lewandowski blockte, war beeindruckend. Seine Flugeinlage aus dem ersten Spiel gegen die Ukraine wird man sowieso in jedem EM-Rückblick sehen.

Durch seine Klasse in der Spieleröffnung, seinen Blick für den Raum, sein Zweikampfverhalten, seine enorme Schnelligkeit und seine Ruhe im Deckungsspiel ist er der "Fußball-Kaiser" der Gegenwart. Ein Kaiser ohne Glamour und Glitter, zwar mit Zimmern voller Turnschuhe und unzähligen Basecaps, aber ohne nervige Starattitüde. Wenn die ganzen Lobeshymnen kommen, bestätigt er nur, dass er eine ganz gute Entwicklung genommen habe.

Einzelkritik zur EM-Partie 2016: Deutschland - Polen
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Deutschland - Polen: Einzelkritik

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In der Tat: Gegen die Ukraine war Boateng auf dem Platz neben Shkodran Mustafi der Turm in der Schlacht, gegen die Polen wuchs mit Rückkehrer Mats Hummels das zusammen, was zusammengehört, wie ZDF-Mann Schmidt ganz treffend befand. Die Defensive war gegen den Nachbarn das geringste Problem.

Im Gegenteil: Sie ließ im Grunde nichts zu, was natürlich nicht nur an Boateng liegt. "Wir haben uns heute als Mannschaft gut defensiv verhalten, besser als gegen die Ukraine in manchen Situationen", sagte Boateng.

Weiterhin der Abwehrchef

Er selbst ist gereift, auf dem Platz, aber auch außerhalb. Da lässt er eine aufwühlende und kontroverse Debatte um die unsäglichen "Nachbarn"-Aussagen von AfD-Vize Alexander Gauland lässig an sich abprallen. Hummels wechselt zur neuen Saison zum FC Bayern? "Für mich ändert sich mit Mats als neuem Abwehrpartner nichts Wesentliches. Mir ist im Grunde egal, wer an meiner Seite spielt. Ich sehe mich weiterhin als Abwehrchef", hatte Boateng im "kicker" erklärt.

Die Grenzen abstecken nennt man das, er muss sein Revier nicht ruppig markieren, stattdessen formuliert er selbstbewusst eine klare Rollenverteilung, aber relativ freundlich verpackt. Ganz Boss eben.

(are)
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