2:0-Sieg gegen die Ukraine Schweinsteigers beeindruckender 192-Meter-Sprint

Lille · Als er kommt, ist es schon fast 23 Uhr, die Nachspielzeit im Stadion von Lille läuft. Bastian Schweinsteiger soll nur noch ein bisschen helfen, den 1:0-Vorsprung der deutschen Mannschaft im EM-Auftaktspiel gegen die Ukraine über die Zeit zu bringen. 20.000 deutsche Fans feiern ihn, als habe er schon beim Auflaufen weit mehr getan als nur das.

EM 2016: Bastian Schweinsteiger sorgt für Tor in Nachspielzeit
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Joker Schweinsteiger sorgt für die Entscheidung

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Foto: dpa, kno

Drei Ballberührungen verzeichnen die Statistiker der Uefa vom Betreten des Rasens bis zum Abpfiff. Schweinsteigers Spiel beginnt mit einem Kopfball, setzt sich fort mit einem Sicherheitspass auf den Flügel, der für Begeisterungsstürme auf den Rängen sorgt, als habe er soeben mit einem Weltklassezuspiel die Gesetze des Fußballs, der Sportwissenschaft und der Schwerkraft zusammen verhöhnt. Und es endet mit einem Dropkick zum 2:0-Endstand, dem krönenden Abschluss eines Konters und der Vollendung einer Flanke von Mesut Özil. Der Rest ist ein einziger Jubelsturm, vorbei an der Bank, an den Ersatzspielern, dem Trainerteam bis in die Arme von Torwart Manuel Neuer.

192-Meter-Sprint mit 32 Jahren

Zwischendurch hat er viele Hände abgeklatscht, vielleicht auch die von Balljungs und Sicherheitsleuten, wenn die nicht schnell genug zur Seite gesprungen sind. So genau sieht man das nicht. Auch von diesem Ausflug über den Platz berichten die Zahlenmenschen Erstaunliches. Schweinsteiger ist im Konter und anschließenden Jubel 192 Meter im Sprint gelaufen. Und das in einem Alter von fast 32 Jahren. Allerhand.

Natürlich ist er mit seinem Auftritt zufrieden. "Ich bin froh", sagt er ein paar Mal. Froh, "dass meine Verletzung ausgeheilt ist", froh, "dass wir gewonnen haben", und froh, dass er den Ball so gut getroffen hat beim ersten Länderspieltor seit fast fünf Jahren. "Es war gar nicht so einfach", stellt er fest. Und dann sagt er noch: "Dass es so etwas gibt, kann man sich nur wünschen." Er sieht sehr glücklich dabei aus.

Schließlich hat er mit dem Tor bereits ein Stückchen von dem Vertrauensvorschuss zurückgezahlt, den Bundestrainer Joachim Löw seinem Kapitän gewährt hat. Nicht jeder findet es logisch, dass Löw den angeschlagenen Spieler von Manchester United ins Aufgebot geholt hat. In der Premier League hat Schweinsteiger sich mit zwei Händen voll Einsätzen über die Runden gequält. Selbst sein großer Förderer Louis van Gaal ist öffentlich auf Distanz gegangen. Das sei nicht "der Schweinsteiger, den ich kenne", hat der Trainer gesagt, der ihn auf die Insel holte. Im Münchner "Jugend-rennt-Fußball" von Pep Guardiola ist kein Platz für den Kapitän der Nationalmannschaft gewesen. Auch van Gaals Nachfolger José Mourinho soll kein großer Fan des deutschen Mittelfeldspielers sein, der sich eindeutig im Spätherbst seiner Karriere befindet.

Seit dem WM-Finale von Rio, in dem Schweinsteiger als Symbol des Behauptungswillens, blutend, aber unbeugsam den Höhepunkt seiner Laufbahn erlebt, ist seine Karriere ins Humpeln gekommen. Er schleppt sich durch die beiden Jahre danach, der Körper streikt immer häufiger nach fast zwei Jahrzehnten im andauernden Belastungstest Hochleistungssport.

Schweinsteigers Auftritte haben seit Rio immer auch etwas von Nostalgie, von wehen Erinnerungen an große Tage. Sie sind ein wenig melancholisch. Schweinsteiger ist nie ein großer Sprinter gewesen (auch sein Lauf zum Tor und zurück in Neuers Arme reicht nicht mehr für olympische Medaillen), aber seine Vorstellungen seit Rio wirken angestrengt, alles ist sehr schwer. Er muss viel hinter dem Ball bleiben, damit er nicht in intensive Zweikämpfe mit schnelleren, beweglicheren Gegnern gerät. Einzig sein großes strategisches Geschick bewahrt ihn vor richtigen Blamagen.

Doch seine Zeit scheint abgelaufen. Es hört sich bereits nach Mitleid an, wenn Löws Assistent Marcus Sorg sagt, Schweinsteiger "kann noch eine wichtige Ergänzung werden". Doch der große Mittelfeldspieler kämpft um einen großen Abschluss. Und Löw sieht sich bestätigt. "Es freut mich sehr für ihn, dass er nach der all der Schufterei so ein tolles Comeback hat", erklärt der Bundestrainer, "das gibt ihm und uns allen Auftrieb." Schweinsteiger hat schon im Finale von Rio seinen rebellierenden Körper besiegt. Vielleicht gelingt ihm das bei der EM noch einmal. Es wäre ein kleines Märchen.

(pet)
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