Einzug ins EM-Halbfinale Portugals Minimalismus bricht Rekorde

Marseille/Düsseldorf · Ohne einen Sieg in der regulären Spielzeit hat Portugal das Halbfinale der EM erreicht. Für einen Titelgewinn der Mannschaft um Cristiano Ronaldo spricht nur die Tatsache, dass es eine so herrlich absurde Pointe wäre.

EM 2016: Cristiano Ronaldo vergibt Siegchance gegen Polen
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Ronaldo vergibt Siegchance im Viertelfinale

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15,74 Millionen Menschen haben es sich angetan, so viele Zuschauer hatte "Wetten, dass..?" zuletzt in den 90ern und so viele Zuschauer hatte bei dieser Europameisterschaft bislang kein Spiel ohne deutsche Beteiligung. Wer Portugals Viertelfinal-Erfolg gegen Polen gesehen und das fußballerisch ebenso enttäuschende Achtelfinale gegen Kroatien noch nicht vergessen hat, konnte die zähe Zeit bis zum Elfmeterschießen wenigstens mit der Beantwortung der Frage totschlagen, welches Spiel nun schlimmer war. Jedenfalls steht Portugal im Halbfinale, ohne einen Sieg nach 90 Minuten. Wie konnte das passieren?

510 Minuten stand die Mannschaft um Superstar Cristiano Ronaldo in Frankreich auf dem Rasen, 22 davon lag sie in Führung, 19 gegen Island, und man ist geneigt, die paar Sekunden gegen Polen zwischen den einzelnen Elfmetern aus Mitleid mitzuzählen. Italien überstand 1982 bei der WM die Vorrunde mit drei Unentschieden, drehte anders als die Portugiesen anschließend aber auf und wurde Weltmeister. Mittlerweile hat es den Anschein, als wollte Portugal die Geschichte kopieren — nur ohne den Teil mit dem Aufdrehen.

Zum Auftakt gegen Island ging Portugal noch in Führung, es folgte ein 0:0 gegen Österreich, im abschließenden Gruppenspiel gegen Ungarn liefen sie dreimal einem Rückstand hinterher, gegen Kroatien kamen sie in der Verlängerung weiter und nun brachte gegen Polen das Elfmeterschießen die Entscheidung. Jetzt stellt sich nur die Frage, ob Portugal den unsouveränen Trend mit einem erneuten Erfolg im Elfmeterschießen fortsetzen will, in dem es zwischenzeitlich hinten liegt — oder ob gegen Wales oder Belgien (endlich?) Schluss ist. Ronaldos Torschussbilanz ist nur minimalistisch, was die Ausbeute angeht. Mit 36 Versuchen in fünf Spielen kommt er auf genauso viele wie die gesamte italienische Mannschaft in vier Spielen. Die brachte jedoch 17 davon aufs Tor, Ronaldo gerade einmal neun.

Nun wäre es allerdings übertrieben, Portugal jegliche Lichtblicke abzusprechen. Bayern-Neuzugang Renato Sanches war so einer. Er erzielte mit 18 Jahren und 317 Tagen als drittjüngster Spieler der EM-Geschichte ein Tor, in K.o.-Spielen war sogar noch niemand so jung. Und dass ihre makellose Bilanz vom Elfmeterpunkt das Drama in Grenzen hielt, kann man den Portugiesen jetzt nicht vorwerfen. Ricardo Quaresma verwandelte den letzten Schuss, schon im Achtelfinale gegen Kroatien sorgte er für die Entscheidung. Es wäre die passende Pointe einer in vielen Belangen merkwürdigen EM, wenn das Team von Trainer Fernando Santos nicht nur das Endspiel erreichen, sondern den Titel gewinnen würde.

Die chronische Ereignislosigkeit in den drei Verlängerungen bei diesem Turnier wirft wieder einmal die Frage auf, ob es nicht einer Reform bedarf. Das Golden Goal sollte die Mannschaften animieren, die vorzeitige Entscheidung zu suchen. Bei den Europameisterschaften 1996 und 2000 kam es zum Einsatz, beide Endspiele wurden so entschieden, auch bei den Weltmeisterschaften 1998 und 2002 gab es das Golden Goal. 59 Prozent aller Spiele, die nach 90 Minuten nicht entschieden waren, waren es nach 120 Minuten immer noch nicht. Seit das Golden Goal wieder abgeschafft ist, hat sich daran nichts Wesentliches geändert: die Quote liegt seit Donnerstagabend bei 42 Prozent.

In den USA sollte diese Lösung, angelehnt ans Penaltyschießen beim Eishockey, einst Abhilfe schaffen:

(jaso)
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