Sportjournalist Sigurdsson aus Island "Eine echte Schwäche fällt mir nicht ein"

Reykjavik · Vidir Sigurdsson schreibt als Sportjournalist für die Tageszeitung "Morgunbladid" aus Reykjavik. Der Erfolg der isländischen Fußballer überrascht ihn nicht. Im Interview mit unserer Redaktion spricht er über die Erwartungshaltung für die EM 2016 und ein Erweckungserlebnis gegen Deutschland.

 Vidir Sigurdsson schreibt für die isländische Tageszeitung "Morgunbladid" über die Nationalmannschaft.

Vidir Sigurdsson schreibt für die isländische Tageszeitung "Morgunbladid" über die Nationalmannschaft.

Foto: Jannik Sorgatz

Herr Sigurdsson, als Sie angefangen haben, über Fußball zu schreiben, hatte Island noch einen exotischen Klang wie Papua-Neuguinea. Jetzt fährt das Nationalteam erstmals zu einem großen Turnier. Auch als Journalist ist das unbekanntes Terrain.

Vidir Sigurdsson "Es ist nicht komplett neu, weil wir in unserer Zeitung 'Morgunbladid' ja über viele Sportarten berichten und somit die Erfolge der Handballer erlebt haben, die 2008 Olympia-Silber und 2010 EM-Bronze gewonnen haben. Den Fußballern dabei zuzuschauen, wie sie im Nationalstadion die Qualifikation für ein großes Turnier feiern, ist aber wirklich ein neues Gefühl."

Als Island vor zwei Jahren beinahe das WM-Ticket klarmachte, glaubten Sie damals daran, dass es so weitergehen würde?

Sigurdsson "Ja, da war ich mir vollkommen sicher. Ich habe sogar schon 2010 geschrieben, dass wir 2016 zur EM nach Frankreich fahren. Alles begann, als die aktuelle Generation in der U21 4:1 gegen Deutschland gewann. Da wurde den Leuten klar, was in Zukunft möglich sein wird. Die Jungs haben sich für die EM in Dänemark qualifiziert und dort sehr unglücklich das Halbfinale verpasst. Ich habe mir gedacht: Wenn wir so weitermachen, sollten wir 2015 zumindest eine Chance haben, uns für Frankreich zu qualifizieren, weil die Uefa das Feld auf 24 Teams erweitert."

Und dann buchte Island das Ticket bereits zwei Spieltage vor dem Ende der Qualifikation mit einem 0:0 gegen Kasachstan.

Sigurdsson "Das wiederum hat natürlich niemand kommen sehen. In einer Gruppe mit den Niederlanden, der Türkei und Tschechien ist das ziemlich verrückt."

Im September flogen 3000 Isländer zum Auswärtsspiel nach Amsterdam, ein Prozent der Bevölkerung. Wie war es dann ein paar Tage später in Reykjavik, als die Mannschaft die Qualifikation klargemacht hat?

Sigurdsson "Mit dem Sieg gegen die Niederlande war ja schon fast alles klar. Die Leute kamen ins Stadion, um zu feiern, jeder war sich ganz sicher."

Das Team besteht zweifellos aus passablen Fußballern. Aber zusammen scheinen sie weitaus stärker zu sein als die Addition ihrer individuellen Fähigkeiten.

Sigurdsson "Exakt. Dafür gibt es zwei Gründe: Zum einen kennen sich die meisten Spieler sehr gut. Der Kern hat die gesamte Jugend zusammen verbracht und schon als U17 gute Ergebnisse erzielt. Zum anderen haben wir sehr gute Trainer. Lars Lagerbäck kam genau zur richtigen Zeit und hat die erfolgreiche U21 hochgezogen. Außerdem hat er den am besten passenden isländischen Trainer an seine Seite geholt. Lagerbäck und Heimir Hallgrimsson sind ein unglaubliches Team."

Wie arbeiten die beiden zusammen? Der eine mit der internationalen Erfahrung aus Schweden, der andere als Prototyp eines Isländers, aufgewachsen auf den rauen Westmänner-Inseln.

Sigurdsson "Da hat einfach alles zusammengepasst. Heimir ist sehr clever. Auf den Westmänner-Inseln hat er einen großartigen Job gemacht: das Frauenteam aufgebaut, die Männer übernommen, sie zum Wiederaufstieg und dann fast bis an die Spitze geführt. Er ist ein vielerlei Hinsicht ein guter Trainer, sehr akribisch in der Videoanalyse des Gegners."

Hat es eine Rolle gespielt, dass Lagerbäck aus Schweden kommt und eine andere Perspektive hereingebracht hat?

Sigurdsson "Vorher hatten wir einen isländischen Trainer, der hier geboren wurde und immer hier gearbeitet hat. Danach brauchten wir unbedingt einen Coach, der "von oben" kam. Lagerbäck hatte sich schon für fünf große Turniere qualifiziert und wusste also, wie es geht. So war ihm vom ersten Tag an der Respekt der Leute sicher."

Klingt nach vielen richtigen Entscheidungen zur richtigen Zeit.

Sigurdsson "Ja, alles scheint perfekt zu passen."

Und momentan ist kein Ende in Sicht: Die aktuelle U21 hat in der EM-Qualifikation kürzlich Frankreich geschlagen. Ihr Trainer "Jolly" Sverrisson meint, diese Generation sei noch besser.

Sigurdsson "Die Leute warten sehnsüchtig, dass die Jahrgänge '94 und '95 reif sind für die A-Nationalmannschaft. Ein oder zwei Spieler bekommen vielleicht schon nächstes Jahr eine Chance."

Überraschenderweise spielen die meisten U21-Talente noch in der heimischen Liga.

Sigurdsson "Viele sind mit 16, 17 Jahren ins Ausland gegangen, haben dort aber nicht den Durchbruch geschafft. Dann kamen sie zurück, um hier zu spielen. Aber ich denke, sie werden bald wieder weiterziehen."

Wie hat sich das Niveau der isländischen Liga in den vergangenen Jahren entwickelt?

Sigurdsson "Wir haben zuletzt gute Resultate in Europa erzielt. Stjarnan Gardabaer scheiterte 2014 erst in den Play-offs zur Europa League an Inter Mailand. Dass isländische Mannschaften so weit kommen, ist neu. Das zeugt davon, dass sich auch der Klubfußball gut entwickelt."

Jede Analyse der sensationellen Entwicklung in Island erwähnt die großen Hallen, die in den vergangenen Jahren gebaut wurden und den Fußball erst zum Ganzjahressport gemacht haben. Ist das der alles entscheidende Faktor?

Sigurdsson "Starke Athleten hatten wir schon immer, aber ihnen fehlte die technische Finesse, weil sie von September bis April nicht draußen trainieren konnten. Die aktuelle und die kommende Generation haben in ihrer Jugend exzellente Bedingungen vorgefunden. Das ist ein ungemein wichtiger Faktor. Nicht nur die großen Hallen waren wichtig, sondern auch die kleinen beheizten Kunstrasenplätze an den Schulen im ganzen Land. Das war das Projekt von 'Jolly' Sverrisson."

Aber das kann nicht alles sein.

Sigurdsson "Gemessen an der Einwohnerzahl haben wir in Island mehr gut ausgebildete Trainer als irgendwo anders auf der Welt. Jeder Trainer, der mit Kindern arbeitet, hat mindestens eine B-Lizenz, oft sogar eine A-Lizenz. In anderen skandinavischen Ländern sind häufig Eltern die Coaches. In Island kommen die Kids schon mit sechs, sieben Jahren in hochqualifizierte Hände."

Das klingt alles so einfach — als ob jedes Land mit entsprechender finanzieller Ausstattung das Konzept kopieren könnte. Aber inwiefern ist es typisch für Island?

Sigurdsson "In dieser Hinsicht hilft es sicherlich, klein und kompakt zu sein. Auch wenn das Land nicht dicht besiedelt ist, sind die Distanzen überschaubar, weil zwei Drittel der Bevölkerung im Großraum Reykjavik leben. Und wenn beispielsweise die U17 zusammenkommt, werden Jungs aus abgelegenen Regionen eben eingeflogen. Das geht."

Auf dem Weg vom Flughafen in Keflavik nach Reykjavik kommt man allein an den Hallen drei großer Klubs vorbei. Aber wie sieht es im Norden oder in Westfjorden aus?

Sigurdsson "Das Trainernetz ist sehr gut. Überall gibt es Zentren, wo die Jungs aus der Region zusammengetrommelt werden."

Bei nur 20.000 registrierten Fußballerinnen und Fußballern geht dem Verband wohl wirklich kein Talent durch die Lappen.

Sigurdsson "Hinzu kommt ja auch noch, dass der Zugang zu den Zentren sehr einfach ist. Die Eltern zahlen einen geringen Jahresbeitrag, der noch von den Gemeinden bezuschusst wird. Jeder bekommt so eine Chance."

Isländische Spieler gelten als sehr loyal und sollen häufig ihre gesamte Jugend bei einem Klub verbringen. Stimmt das? In Deutschland ziehen die großen Klubs naturgemäß die Talente an und werben sie dann häufig voneinander ab.

Sigurdsson "Auch hier haben die größten Klubs bessere Chancen, aber es stimmt schon: Viele Spieler bleiben einem Klub treu, bis sie in den Seniorenbereich wechseln."

Die erste EM-Teilnahme ist ein historischer Erfolg für Island. Wie ist die Einstellung der Mannschaft: Will sie vor allem den Moment genießen oder steckt sie sich schon neue Ziele?

Sigurdsson "Man darf sicher sein, dass das Trainerteam bereits einen Plan ausheckt, wie das Team die Gruppenphase überstehen kann. Das ist Ziel Nummer eins. Es werden so viele Mannschaften wie Nordirland, Wales, Österreich oder Albanien dabei sei, die sich lange nicht oder sogar noch nie für ein großes Turnier qualifiziert haben. Da wird zwangsläufig einer von den Kleinen durchkommen. So ist ja das System bei sechs Vierergruppen: Ein Sieg kann schon reichen. Aber bis zur Auslosung im Dezember ist das natürlich alles spekulativ."

Coach Heimir Hallgrimsson betont gerne, dass die Spieler sich auf ihre Stärken konzentrieren sollen. Aber lassen Sie uns über die Schwächen reden. Was muss Island noch verbessern?

Sigurdsson "Ein großes Defizit sehe ich nicht. Okay, wir haben keinen echten Linksverteidiger, unserer spielt in seinem Verein im linken Mittelfeld…"

…aber so geht es vielen Nationen, fragen Sie mal in Deutschland nach.

Sigurdsson "Vor der Qualifikation hätte ich gesagt: Die Defensive inklusive des Torwarts könnte ein Knackpunkt werden. Jeder wusste, dass dieses Team vorne stark ist, aber die Frage war: Wie würde es verteidigen? Wie würde sich Keeper Hannes Halldorsson schlagen? Das waren die Hauptsorgen. Aber dann haben sie in den ersten acht Spielen sechsmal die Null gehalten."

Sieht so aus, als gäbe es für Island nur Gründe, optimistisch auf die EM zu schauen.

Sigurdsson "Für uns Journalisten ist es auch etwas zum Genießen, aber das Team wird es verbissener sehen. Die wollen einfach ein verdammt gutes Turnier spielen."

Jannik Sorgatz führte das Gespräch

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