Sportmedizin Immer mehr Muskelverletzungen im Fußball

Düsseldorf · Jürgen Klopps Englisch-Wortschatz wird größer – aber nicht immer zu seinem Wohlwollen. "Ich kannte das Wort nicht, bevor ich nach England gekommen bin, aber 'hamstring' ist für mich das Scheißwort des Jahres. Es heißt immer nur hamstring, hamstring, hamstring", sagte der Trainer vom FC Liverpool vor rund zwei Wochen.

 Fortuna-Teamarzt Ulf Blecker.

Fortuna-Teamarzt Ulf Blecker.

Foto: Christof Wolff

Jürgen Klopps Englisch-Wortschatz wird größer — aber nicht immer zu seinem Wohlwollen. "Ich kannte das Wort nicht, bevor ich nach England gekommen bin, aber 'hamstring' ist für mich das Scheißwort des Jahres. Es heißt immer nur hamstring, hamstring, hamstring", sagte der Trainer vom FC Liverpool vor rund zwei Wochen.

Hamstring ist der hintere Oberschenkelmuskel. Fünf Spieler im Klopp-Kader fallen mit Verletzungen in diesem Bereich aus. Auch in der Bundesliga gibt es immer mehr Muskelfaser-, Muskelbündel- oder komplette Muskelabrisse. Prominente Beispiele sind Arjen Robben, Holger Badstuber, Douglas Costa, Marco Reus und Benedikt Höwedes, Die Gründe liegen unter anderem in moderner Trainingssteuerung.

"Der Muskel hat vom Stellenwert in den vergangenen zehn Jahren unglaublich dazugewonnen", sagt Ulf Blecker, der seit neun Jahren Zweitligist Fortuna Düsseldorf als Teamarzt betreut. Früher wurden Muskeln in der Sportmedizin eher als lästiges Beiwerk von Gelenken, Sehnen und Bändern vernachlässigt. Neue Nomenklaturen malen aber ein völlig anderes Bild vom Muskel. Mittlerweile dient er nicht nur der Dynamik, sondern auch zur Stabilisierung der Gelenke. Hans-Wilhelm Müller-Wohlfahrt, ehemaliger Mannschaftsarzt des FC Bayern München, trug mit seinem Buch "Muskelverletzungen im Sport" zu einer neuen Klassifikation bei.

In der Trainingssteuerung von Profimannschaften stehen die Therapie und der Umgang mit Muskeln auf Platz eins. "Der Muskel hat zum Schutz von Bändern und Gelenken eine viel größere Wirkung als früher angenommen", sagt Blecker. Diese Schutzfunktion bringt auch Nachteile mit sich. Die größte Gruppe der Verletzungen beim Fußball - 35 bis 38 Prozent - sind Schädigungen des Muskels. "Wenn das Gerüst mehr halten muss als das Innenleben, ist die Gefahr von Schäden dort auch höher", erklärt Blecker. Heißt: Die geringere Anzahl an Gelenk- und Bänderverletzungen geht auf Kosten der Muskeln. Bestätigung dafür lieferte jüngst Bayern-Kapitän Philipp Lahm im Trainingslager in Katar: "Den Knochen geht's gut, die Muskulatur merkt man."

80 Prozent aller Muskelverletzungen betreffen den hinteren Oberschenkelmuskel. Was die Häufung der Ausfälle in Liverpool angeht, mutmaßt Blecker, dass der Wechsel in der Trainingssteuerung von Brendan Rodgers zu Jürgen Klopp im Oktober ein Grund sein könnte. "Vielleicht wird den Spielern etwas zugemutet, was sie vorher so nicht kannten", sagt Blecker. "Ich bin immer froh, wenn beim Trainerwechsel der Athletiktrainer bleibt. Ist der Athletikcoach gut, bist du im medizinischen Sektor nicht gefragt."

Ist ein Muskel aber einmal geschädigt, liegt die Gefahr einer erneuten Verletzung an gleicher Stelle bei 20 Prozent. Die Ausfallzeit verdoppelt sich dabei im Schnitt. Einige Erhebungen besagen, dass Muskeln nicht wie früher nach unzureichendem Aufwärmtraining, sondern vor allem ab der 70. Minute bei Ermüdung beschädigt werden. Zudem wird von Spielern durch die Professionalisierung des Leistungssports immer mehr gefordert. "Spieler mit unter zehn Kilometer Laufleistung werden ja schon fast dafür zusammengefaltet." Da helfen dann auch neueste Erkenntnisse, was Sauerstoffkammern, Manualtherapie, Physiotherapie oder Nahrungsergänzung angeht, nur zur Vorbeugung oder Verringerung der Ausfallzeit. "Die Sportmedizin hat ihre Grenzen", sagt Blecker.

Dass die Erwartungshaltung der Trainer an die Mediziner diese Grenzen manchmal überschreitet, ist für Blecker normal. "Eine Diskrepanz existiert, aber beide wollen den Erfolg des Teams, also muss man das vernünftig diskutieren und lösen." Beim FC Bayern endete diese Diskussion nach Kritik von Trainer Pep Guardiola im April 2015 damit, dass Müller-Wohlfahrt hinwarf. Im Sommer ist Guardiola weg und eine Rückkehr des anerkannten Sportmediziners wahrscheinlich.

(erer)
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