EM ist das große Ziel Das wird das Jahr von Marco Reus

Dortmund · Borussia Dortmunds Stürmer musste die WM 2014 wegen Verletzung absagen. Jetzt will er in Frankreich Europameister werden.

 Marco Reus und Trainer Thomas Tuchel.

Marco Reus und Trainer Thomas Tuchel.

Foto: dpa, bt axs

Es ist ein früher Abend in diesem frühlingshaften Dezember. Im ehemaligen Dortmunder Westfalenstadion herrscht mal wieder ausgelassene Stimmung, weil die Borussia ihren Gegner Eintracht Frankfurt nach allen Regeln der Fußballkunst auseinandernimmt. Nur Marco Reus macht das "Nicht-schon-wieder-ich"-Gesicht. Während die Kollegen über den Platz wirbeln, steht der Nationalspieler an der Ersatzbank und zeigt auf den Bereich seines Körpers, der früher die Leistengegend hieß und in dem heute die Adduktoren liegen. Sie schmerzen, Reus muss raus. Wieder mal. Sein Trainer Thomas Tuchel findet das "alles sehr traurig". Aber Reus lässt sich von der Verzweiflung nicht anstecken.

"Im ersten Moment kann so ein Gedanke natürlich mal aufkommen. Aber den schiebe ich auch schnell wieder beiseite. Es bringt nichts, sich im Leben auf Negatives zu fixieren. Das hilft niemanden. Erst recht mir nicht, wenn ich nach einer Verletzung daran arbeite, möglichst schnell wieder auf dem Platz stehen und das machen zu können, was ich am liebsten mag: Fußball spielen."

Er kennt sich aus mit diesen Momenten. Seine Premiere in der Nationalmannschaft muss wegen Verletzungen mehrmals verschoben werden. Und der heftigste Rückschlag ereilt ihn ausgerechnet unmittelbar vor der Abreise der DFB-Auswahl zum WM-Turnier nach Brasilien. Reus ist in allerbester Form, aber er muss zusehen, wie die Kollegen 2014 Weltmeister wurden. Bei der Siegesfeier halten sie sein Trikot in die Kameras. Reus verrät nicht, wie nah es ihm gegangen ist.

"Natürlich war das ein harter Schlag für mich. Ich wäre unheimlich gern mit nach Brasilien geflogen und hätte meinen Kollegen auf dem Weg zum Titel geholfen. Vielleicht hat es mir geholfen, dass ich von Haus aus echt nicht der Typ bin, der Negatives lange mit sich herumschleppt. Ich bin grundsätzlich ein Mensch, der auch nach Rückschlägen schnell wieder total positiv denkt. Und das war ein paar Tage nach der Verletzung schon wieder möglich. Ich habe den Jungs in Brasilien die Daumen gedrückt und mich für sie über jedes einzelne Erfolgserlebnis gefreut."

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Das klingt ein bisschen eingeübt. Und es ist tatsächlich Teil seiner Strategie, Rückschläge in Energie zu verwandeln. Sein ehemaliger Berufskollege Ulf Kirsten hat so eine Einstellung in eine Art sächsisches Mantra gegossen: "Da mach ich mir geen Kopp." Reus macht sich auch keinen Kopp. Er schaut nach vorn. Denn es gibt ein großes Ziel, die Europameisterschaft in Frankreich im Sommer 2016. Natürlich will er diesmal dabei sein. Viele Experten glauben, dass es ein großes Jahr für den 26 Jahre alten Stürmer wird. Er selbst hält den Ball flach.

"Ganz ehrlich: Wenn es das Jahr des gesamten BVB werden würde und ich für meinen Heimatklub auf dem Rasen dazu beitragen könnte, dass es so kommt, dann wäre mir das viel wichtiger."

Zu vollmundigen Versprechungen lässt er sich nicht locken. Die demonstrative Bescheidenheit wirkt nicht mal aufgesetzt, Reus ist damit aufgewachsen. Als er noch ein schmales Bürschchen ist, schicken ihn die Dortmunder nach Ahlen. Er geht seinen Weg zu einem Spieler von internationalem Format nicht geradeaus. Die zweite Liga in Ahlen hat so gar nichts vom Glitzerzirkus der Bundesliga. Und in Mönchengladbach gibt es zunächst mal Abstiegskampf statt Champions League. Überall fügt er sich ein. Als er längst ein Star ist, loben die Kollegen seine Bodenständigkeit. In der Kabine ist er einer von vielen, manchmal ein bisschen zappeliger als andere und gelegentlich kindlich ausgelassen. Der will nur spielen - das beschreibt ihn ganz gut.

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Weil er jenseits der Kabinen-Abgeschiedenheit ungern spricht, viel weniger als beispielsweise sein Nationalmannschafts-Mitspieler Mats Hummels, glauben böse Menschen, dass er nichts zu sagen hat. Den Gegenbeweis tritt er selten an, ihm liegt nichts am Auftritt vor den Fernsehkameras, wenn nicht gerade der Ball in der Nähe ist. Aber natürlich macht er sich Gedanken über das Leben als Hauptdarsteller in einem gut ausgeleuchteten Geschäft. Die Schattenseiten hat er beim Länderspiel in Paris erfahren, als die Mannschaft während der Terrornacht in der Kabine übernachtet und zumindest für diese Stunden aus der Rundumversorgung des Profifußballs in die gelegentlich schreckliche Wirklichkeit fällt.

"Es sind tieftraurige Zeiten, in denen Dinge wie in Paris passieren. Als Spieler vertraue ich wie jeder Zuschauer darauf, dass die für die Sicherheit zuständigen Experten immer ihr Bestes geben, um Großveranstaltungen sicher über die Bühne zu bringen. Dass es immer ein Restrisiko gibt, ist allen bewusst. Aber dieses Restrisiko sollte unser Leben nicht bestimmen."

Es wird allerdings in der Vorbereitung auf die EM natürlich ein Thema in der Nationalmannschaft sein. Völlig ausblenden lässt es sich nicht, selbst mit Formeln nicht, wie Reus sie benutzt. Er macht das nicht nur bei politischen Bemerkungen, sondern auch in Diskussionen über die sportliche Lage der Nation. Selbst hier lässt er sich nicht zu tief in die Seele blicken. Er vermeidet fast zwanghaft die lauten Töne.

"Natürlich sind wir einer der Favoriten bei der EM. Aber gerade Favoriten müssen jedes Spiel seriös und professionell angehen. Egal, wie der Gegner heißt."

So hören das die Trainer gern. Vor allem beim DFB wird höchster Wert darauf gelegt, dass die Spitzenkräfte mit erkennbarer Demut ihre Öffentlichkeitsarbeit erledigen. Reus fällt das vermutlich weniger schwer als so manchem Nebenmann, der die Selbstvermarktung viel bewusster betreibt. Und natürlich laufen Fragen nach dem Rang in der Nationalelf bei Reus völlig ins Leere.

"Das müssen Sie nicht mich, sondern den Bundestrainer fragen. Ich denke nicht in diesen 'Gesetzt-oder-nicht-gesetzt'-Kategorien. Ich versuche, meine Leistung möglichst stabil abzurufen. In jedem Training, in jedem Spiel, an jedem Tag. Das ist mein Anspruch an mich selbst. Und nur das kann ich beeinflussen."

Wenn Reus mal spricht, dann lieber über die Gruppe als über sich. Dadurch lässt sich der Traum vom eigenen großen Jahr behutsam im großen Ganzen unterbringen.

"Die Mannschaft ist nicht von ungefähr Weltmeister geworden. Natürlich mussten nach der WM wichtige Spieler ersetzt werden, und so eine Qualifikation nach einem Titel ist nie ein Selbstläufer; aber die Qualität im Kader ist ausgesprochen hoch. Wir bleiben ambitioniert."

Auch weil er nach einem schweren BVB-Jahr wieder auf dem Weg zur Bestform ist. Dazu hat sein neuer Trainer Tuchel beigetragen. Das weiß Reus, aber er räumt es nicht ein. Das ist die Dortmunder Sprachregelung.

"Wir hatten in Jürgen Klopp einen herausragenden Trainer, und jetzt haben wir in Thomas Tuchel einen herausragenden Trainer, der den Fußball anders denkt. Was wir alle beim BVB nicht mögen, sind diese Quervergleiche. Ob nun offen oder durch die Blume formuliert. Unser Fußball ist seit dem Sommer ein anderer geworden."

Zumindest hat dieser neue Stil den BVB wieder auf den Platz hinter den Bayern geführt. Da möchte der Klub auf Sicht aber nicht bleiben. Schließlich hat er schon vorgemacht, dass er da sein kann, wenn die Ober-Bayern mal schwächeln.

"Der BVB hat nicht umsonst zwei Meistertitel und das Double gewonnen, stand im Champions League-Finale und hat mehrere Endspiele erreicht."

Endspiele soll es für Reus auch 2016 geben. Ein Versprechen gibt er dann doch:

"Ich kann nur sagen, dass ich in jedem Spiel den Versuch unternehme, mein persönliches Maximum abzurufen."

Auch ein Wort zum neuen Jahr.

Alle Zitate aus einem Gespräch mit Marco Reus

(pet)
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