Bayer Leverkusen "Ein Jugendspieler bei Bayer 04 braucht keinen Berater"

Leverkusen · Jürgen Gelsdorf, Leiter des Nachwuchsleistungszentrums, spricht über den Jugendwahn im Profi-Fußball, Bayers Arbeit mit Nachwuchsspielern, den Zugzwang der Werkself im Wettstreit um Talente, Strukturänderungen in der U 17 und das Jahr eins nach Abmeldung der U 23.

 Jürgen Gelsdorf leitet das Nachwuchszentrum von Bayer 04.

Jürgen Gelsdorf leitet das Nachwuchszentrum von Bayer 04.

Foto: Uwe Miserius

Herr Gelsdorf, neben Ihrem Schreibtisch steht ein großes Foto, auf dem zwei Zehnjährige spielen.

Gelsdorf Erkennen Sie, wer das ist? Der eine ist Marlon Frey, der andere Leroy Sané. Zwei tolle Jungs.

Beide kamen als Kinder zu Bayer 04. Der eine trägt inzwischen aber das Trikot des FC Schalke 04.

Gelsdorf Das stimmt. Als er damals ging, tat mir das sehr weh. Seine Eltern wollten ins Ruhrgebiet zurück, dagegen kann man nichts sagen. Einen talentierten und charakterlich anständigen Jungen wie ihn hätte ich gerne länger bei Bayer 04 gehabt.

Die Profi-Vereine geraten im Wettstreit um Talente immer mehr unter Zugzwang. Muss auch Bayer 04 der Entwicklung Rechnung tragen, dass die Jungen immer früher den Sprung in die Bundesliga schaffen und Talente früher umworben werden?

Gelsdorf Absolut. Vor zehn Jahren spielte kaum ein 18-Jähriger in der Bundesliga. Jetzt machen teils 16-Jährige schon bei den Profis mit. Dass wir unsere U 23 abgemeldet haben und mehr auf die Ausbildung der 13-, 14- und 15-Jährigen setzen, ist das richtige Signal.

Welches Fazit ziehen Sie im Jahr eins nach der Abmeldung der U 23?

Gelsdorf In der Frage, ob eine U 23 Sinn macht, gibt es kein richtig oder falsch. Es gibt Klubs, für die ist eine U 23 sportlich überlebensnotwendig. Für Bayer 04 war die Abmeldung sicher richtig. Räumlich war die U 23 nah dran an den Profis, aber kaum ein Spieler war für die Profimannschaft interessant. Wenn man ehrlich ist, dann ist für die richtig guten A-Junioren — wie es Christoph Kramer oder Julian Brandt waren — die U 23 uninteressant. Wir wollen unsere Infrastruktur effektiver nutzen.

Was heißt das?

Gelsdorf Es gibt bei Bayer 04 drei Wege für die Spieler, die aus der A-Jugend rauskommen. Im Idealfall schafft einer direkt den Sprung ins Profiteam. Diese Fälle gibt's, aber realistischer ist es, dass wir mehrheitlich gute Nachwuchsspieler haben, denen wir sagen: Jetzt reicht es nicht, aber vielleicht in ein bis zwei Jahren. Wir überlegen dann individuelle Lösungen. Heißt: Die Jungs bleiben bei Bayer 04, bekommen in anderen Klubs über ein Leihgeschäft aber die Möglichkeit, auf einem höheren Niveau als in der Regionalliga, Praxis zu sammeln und sich zu entwickeln.

Was passiert mit Spielern, die es überhaupt nicht schaffen?

Gelsdorf Denen hat man in der U 23 genau genommen etwas vorgemacht. Die U 23 sollte Sprungbrett sein, was sie aber für die meisten nicht war. Den Jungs ist doch mehr damit geholfen, wenn ihnen im Jugendalter jemand klar sagt, dass sie es bei Bayer 04 wohl nicht in den Profikader schaffen — anstatt sie hier zwei, drei Jahre spielen zu lassen und ihnen dann erklären zu müssen: Das reicht nicht.

Wann haben Sie zum letzten Mal einem Vater gesagt, dass für den Sohn bei Bayer 04 der Weg zu Ende ist?

Gelsdorf In der Regel führen die Trainer dieses Gespräch. Wir geben nach dieser Saison sechs Spieler ab aus acht Mannschaften. Das zeigt, dass wir gut gescoutet haben und solche Gespräche fast nicht nötig werden. Zum Glück. Wenn ich mich von einem Jungen trennen muss, der mit acht hier anfing und mit 15 geht, finde ich das persönlich hart.

Wer wird der nächste Jugendspieler, der sich im Profiteam etabliert?

Gelsdorf Zu dieser Prognose lasse ich mich nicht hinreißen. Intern sprechen wir natürlich über das Entwicklungspotenzial der Jungs. Und das müssen wir auch. Ein neuralgisches Alter ist die U 15. Bis dahin haben die Jungs keine Verträge, können theoretisch jederzeit zwischen den Leistungszentren hin- und herwechseln. Sind die Jungs dann unter Vertrag, läuft das wie bei den Profis. Vereine müssen die Spieler kaufen. Wir legen uns in diesem Alter mit Blick auf die Profiabteilung ein Stück weit fest — wohl wissend, dass es einige doch nicht schaffen. Aber die Jungs sind dann 16 Jahre alt. Wenn plötzlich halb Europa hinter einem Spieler her ist und die Lizenzabteilung von nichts weiß, würden wir schlafen. Der Spieler X ist dann meist für den Verein verloren.

Wie bemessen Sie den Erfolg Ihrer Jugendarbeit?

Gelsdorf In erster Linie daran, wie viele Spieler es letztlich zu den Profis schaffen. Aber es gab im letzten Jahr auch eine Statistik, die aufzeigte, dass Bayer 04 die meisten jungen Spieler in der ersten, zweiten und dritten Liga hatte. Da ist vielleicht nicht ein Überspieler wie Mario Götze dabei — aber die Breite ist eine tolle Bestätigung unserer Arbeit. Es zeigt, dass unser Konzept Früchte trägt. Ein Dominik Kohr musste sich in Augsburg durchbeißen. Das hat er geschafft. Wenn ein Spieler die Möglichkeit hat, auf höherem Niveau mitzumachen, dann macht ihn das besser.

Ist die Grenze des Jugendwahns erreicht?

Gelsdorf Ich bin davon überzeugt, dass die Entwicklung noch nicht am Ende ist und wir künftig noch mehr und vielleicht noch jüngere Spieler in der Bundesliga sehen. Schauen Sie: Benni Henrichs, Lukas Boeder und Robin Becker haben die B-Jugend übersprungen. Die können A-Jugend spielen, haben aber schon 100 Einheiten mit den Profis absolviert. Das hochprofessionelle Training und die Möglichkeiten, die Nachwuchs-Spieler im Vergleich zu meiner Zeit haben, werden die Entwicklung weiter vorantreiben.

Sehen Sie nicht die Gefahr, dass den jungen Fußballern wertvolle Jugendzeit verloren geht? Ganz zu schweigen, die Möglichkeit, auch in punkto Ausbildung vorzusorgen?

Gelsdorf Wir müssen bei aller Euphorie, die manchmal um Talente aufkommt, die Persönlichkeitsentwicklung der Jungen im Auge behalten und ihnen Freiräume lassen. Das finde ich wichtig.

Wie geht das, wenn Jugendspieler inzwischen auch Berater haben?

Gelsdorf Das ist ein Problem, weil die Berater immer mehr in den Jugendbereich drängen und früher Jugendliche ansprechen. Wenn Sie sich heute Jugendspiele ansehen, dann ist die Verteilung an der Seitenlinie inzwischen 50 Prozent Zuschauer, 50 Prozent Berater. Ein Jugend-Nationalspieler hat als Bezugspersonen die Eltern, die Lehrer, den Vereinstrainer, den Nationaltrainer, die Sportartikelhersteller — und ich spreche dabei noch nicht von den Co-Trainern, Konditionstrainern oder Athletiktrainern und Psychologen. Dazu kommen eben auch die, die alles können: die Berater. Die haben auch gewisse Interessen. Die Jungen stehen dann da und fragen sich, auf wen soll ich hören?

Müssen Sie häufig Überzeugungsarbeit bei den Eltern leisten?

Gelsdorf Eine vernünftige Aufklärung der Eltern ist wichtig. Sie müssen das Vertrauen in den Verein haben und wissen, dass wir keine krummen Sachen mit den Kindern machen. Deshalb ist es so wichtig, dass wir uns um jeden Einzelnen kümmern, auch um die, die es erst einmal nicht schaffen. Wenn mich Eltern fragen, welchen Berater sie nehmen sollen, kann ich nur sagen: Ein Jugendspieler bei Bayer 04, um den sich gekümmert wird, braucht keinen Berater. Da wird nichts entschieden, was den Jungs schadet.

Viele Klubs haben viel Geld in ihre Nachwuchsabteilung investiert. Wie schwer ist es, seine Rolle zu halten?

Gelsdorf Was in den vergangenen 15 Jahren um uns herum passiert ist, ist enorm. Als ich 2005 hier angefangen habe, waren wir sieben hauptamtliche Mitarbeiter, jetzt haben wir 23. Als wir vor 15 Jahren am Kurtekotten das Nachwuchszentrum gebaut haben, waren wir das Nonplusultra. Das hat sich inzwischen verändert. Vereine wie Gladbach oder auch Leipzig haben überragende Bedingungen. Bayern plant eine Anlage mit Schule. Wir haben nunmal leider die räumliche Trennung zur Arena, aber wir müssen uns deshalb, was die Ausstattung angeht, nicht verstecken. Für die U 8 bis U 15 haben wir am Kurtekotten Top-Bedingungen. Ist die U 17 erst umgezogen, das auch für diese Mannschaft. Mehr Plätze heißt nicht, dass die Ausbildung besser ist.

Welche Strukturänderungen sind noch geplant?

Gelsdorf Die U 17 soll auch ins Stadion ziehen, der Zeitpunkt hängt davon ab, wie schnell beim TSV der Platz gebaut wird. Die beiden höchsten Jugendteams sind dann nah dran an den Profis, dafür verlieren die Kleinsten am Kurtekotten allerdings ein wenig ihre Vorbilder aus den Augen. Hier wird es wichtig sein, die Verbindungen zu halten.

Bei Sascha Lewandowski stehen die Zeichen auf Abschied. Er wird den Weg mit Bayer 04 womöglich schon bald nicht mehr mitgehen.

Gelsdorf Zum Stand der Dinge mag ich gar nicht so viel sagen.

Sie würden aber einen wichtigen Mitarbeiter verlieren.

Gelsdorf Ohne Zweifel. Sascha hat hier tolle Arbeit geleistet. Als Chefcoach der Nachwuchsabteilung, aber auch als Trainer der Profis. Er ist zwei Mal ins kalte Wasser gesprungen. Wenn man immer Trainer war und das auch noch sehr erfolgreich, dann überrascht es nicht, dass er sich mit 43 Jahren noch einmal mit der Thematik beschäftigt. Wenn er eine Chance bekommt, als Trainer zu arbeiten, dann darf man ihm das nicht verbauen. Ich war damals 52 — natürlich kamen zwischendurch Anfragen — aber ich wollte das nicht mehr.

Hat Sie das nie mehr gereizt?

Gelsdorf (lacht) Vielleicht als Jupp Heynckes wieder anfing. Spaß beiseite. Zwischendurch kommen natürlich solche Gedanken. Aber ich bin nun zehn Jahre hier und liebe diese Arbeit. Man sieht quasi seine Kinder aufwachsen. Es ist toll, den Jungen in ihrer Entwicklung zuzusehen.

Mit Stefan Reinartz und Gonzalo Castro haben zwei Eigengewächse den Verein verlassen, die es bis in die Bundesliga schafften. Ist im Profi-Fußball und speziell bei Bayer 04 noch Platz für solche Karrieren?

Gelsdorf Ich glaube schon. Bei uns haben die Spieler im Durchschnitt eine Verweildauer von über fünf Jahren im Klub. Das zeigt, dass Bayer 04 viel Geduld mit seinen Spielern hat. Ich halte es daher für möglich, dass es auch künftig Jungs wie Stefan und Gonzalo bei uns gibt, die sich mit Bayer 04 identifizierten und nicht umsonst so lange hier spielten. Das muss weiter unser Ziel sein.

(RP)
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