Formel 1 Tüftelt Rosberg sich zum WM-Titel?

Barcelona/Shanghai · Die moderne Formel 1 ist ein Datenpuzzle mit Millionen Teilen. Einem Tüftler wie Nico Rosberg kommt die Detailarbeit im Grenzbereich entgegen. Das hat sich der WM-Spitzenreiter auch bei Michael Schumacher abgeschaut.

Formel 1: Das Zeugnis von Nico Rosberg, Sebastian Vettel und Co.
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Das Sotschi-Zeugnis der deutschen Piloten

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Foto: dpa, ss

Nico Rosbergs Weltmeister-Plan steht in einem blauen Notizbuch. Immer wieder nimmt der Mercedes-Rennfahrer auf seiner Formel-1-Welttournee das Heft im A5-Format zur Hand, notiert Arbeitsaufträge, Ideen, Daten. Es sind meist nur Kleinigkeiten, die Rosberg da zwischen die Zeilen kritzelt. Gedanken zu Motoreneinstellungen, veränderter Bremsbalance oder dem Reifendruck. Kleinigkeiten, die am Ende den Unterschied ausmachen können im langen Rennen zum WM-Triumph.

Nach zwei vergeblichen Anläufen auf die Formel-1-Krone, zwei prägenden Niederlagen gegen Teamkollege Lewis Hamilton kommt es Rosberg in diesem Jahr mehr denn je auf jedes Detail an. Es sind daher Trainings-Freitage wie dieser in China, an denen der Tüftler Rosberg ganz in seinem Element ist. Probieren, Daten sammeln, analysieren, wieder probieren - so nähert sich der 30-Jährige Stück für Stück seinem Ziel. "Das macht mir Spaß, da kann ich mich reinwühlen", sagt Rosberg, der für seinen Eifer zu Saisonanfang mit einer beeindruckenden Serie von Siegen belohnt worden ist.

In der Garage findet der gebürtige Wiesbadener zu Beginn jedes Grand-Prix-Wochenendes die gleiche Versuchsanordnung vor. Egal ob Shanghai, Barcelona oder Hockenheim. Unter kaltem, weißem Licht steht sein Dienstwagen, der Mercedes F1W07 Hybrid, wie auf einem OP-Tisch für ihn bereit. Schläuche und Kabel ragen aus dem auf Hochglanz polierten Silberpfeil, auch der Fußboden ist spiegelblank. Jedes Staubkorn stört die Labor-Bedingungen.

Testfahrten als Datensammlung

Die Ampel an der Boxen-Ausfahrt springt auf Grün, zweimal 90 Minuten dürfen die Piloten nun ihre hochgezüchteten Maschinen um die Strecke treiben. Doch was für den Laien aussieht wie eine schlichte Jagd nach der Tagesbestzeit, ist vielmehr eine minutiös durchgeplante Datensammlung. "Die Komplexität hat zugenommen. Technologie kann man nicht aufhalten", sagt Mercedes-Motorsportchef Toto Wolff.

Der Österreicher sitzt während des Trainings mit acht Ingenieuren an einem erhöhten Tisch, der die Mercedes-Box in zwei Hälften teilt. Auf der rechten Seite immer das blaue Team, das für Titelverteidiger Hamilton arbeitet. Rosbergs Mannschaft auf der linken Seite ist im internen Code die rote Crew.

Angestrengt schaut Wolff auf die Daten-Monitore vor ihm, lauscht per Kopfhörer in den Funk. Neben dem hochgewachsenen Mann im silbergrauen Teampullover suchen Fahrer, Ingenieure und Mechaniker im Grenzbereich nach den Zehntelsekunden, die später über den besten Startplatz und den Sieg im Rennen entscheiden. "Man kann sich nie sicher sein. Das Vertrauen in das eigene Tun ist natürlich mit dem Erfolg gewachsen", sagt Wolff.

Der 44-Jährige war selbst Rennfahrer, dann Unternehmer und Finanzinvestor, ehe er das Mercedes-Werksteam zum Seriensieger in der Formel 1 formte. Dem Zufall ist dabei nichts überlassen. Das zeigt allein die enorme Menge des Datenmaterials, die bei diesen Trainingseinheiten gesammelt und im Eiltempo analysiert wird. 200 Sensoren sind jeweils auf Rosbergs und Hamiltons Auto verteilt. 100 Mal pro Sekunde liefern diese Sensoren Daten über 1000 verschiedene Parameter. Bremsbalance, Reifentemperatur, Motorkühlung, Windeinfluss - jede Winzigkeit kann eine Rolle spielen.

Doch damit nicht genug. 17.000 weitere Parameter werden in etwas größeren Abständen gemessen. Größere Abstände, das heißt in der Formel 1: alle paar Sekunden. Innerhalb von zwei Sekunden kommt so ein Megabyte an Daten zusammen.

Über ein Renn-Wochenende hinweg fließen inklusive Bild- und Tonmaterial rund 100 Gigabyte an Informationen in die Mercedes-Rechner. Zum Vergleich: Das ist in etwa so viel wie 40.000 Urlaubsfotos mit dem Smartphone. "Durch die vielen technischen Möglichkeiten ergeben sich auch viel mehr Parameter, die ich beeinflussen und für mich nutzen kann", erklärt Rosberg.

Genau darum geht es jetzt. Rosbergs Renn-Ingenieur Tony Ross, mit dem der Deutsche schon seit Beginn seiner Formel-1-Karriere bei Williams zusammenarbeitet, gibt das Zeichen zum Losfahren. Blitzschnell machen die Mechaniker den Silberpfeil einsatzbereit, entfernen die Heizdecken von den Reifen, der Sechszylinder-Motor brüllt auf. Rosberg wirft seine Auto in die Kurven, tastet sich ans Limit. "Ich habe zu viel Untersteuern in Kurve acht", meldet er. Heißt: Die Einstellung des Autos passt nicht, es drängt in der Kurve nach außen.

Rosberg ist ein Kopfmensch, Hamilton eher ein Bauchfahrer

Rosberg ist jetzt ganz bei sich. Ein Tüftler, ein Kopfmensch, der den Dauer-Zweikampf mit dem vermutlich talentierteren Bauchfahrer Hamilton endlich mit harter Detailarbeit für sich entscheiden will. Bestärkt hat Rosberg dabei die dreijährige Zusammenarbeit mit Rekordweltmeister Michael Schumacher. "Er hat eine unglaubliche Präsenz und Arbeitsmoral an den Tag gelegt", sagt Rosberg und erzählt eine Geschichte aus dem Jahr 2012, als Schumacher nach seinem vorletzten Grand Prix eineinhalb Stunden mit den Ingenieuren über die Weiterentwicklung eines Autos beriet, das er gar nicht mehr fahren würde. "Das hat mich sehr beeindruckt", sagt Rosberg.

Auf der Strecke ist der Blondschopf inzwischen in eine kurze Funk-Debatte darüber verwickelt, wie er seine Kupplung in den richtigen Temperaturbereich bringen kann. So gläsern ein Formel-1-Auto dank moderner Datentechnik sein mag, am Ende müssen die zentralen Impulse vom Fahrer kommen. "Wir müssen sagen, wie sich das anfühlt, was die Ingenieure sich ausdenken", erklärt Rosberg.

Im Mercedes-Funkverkehr hört sich das dann so an wie bei Hamilton:
"Mein größtes Problem ist Kurve eins, außerdem die Bremsen in 6, 10 und 11." Sofort fließen Hamiltons Erkenntnisse ein in den Datenpool, der von Sekunde zu Sekunde wächst. Geheimnisse gibt es in der Mercedes-Garage nicht, beide Fahrer teilen ihre Informationen.

Ohnehin ist der Trainingsplan von Chef-Renningenieur Andrew Shovlin so abgestimmt, das sich aus den verschiedenen Runden beider Fahrer ein möglichst komplettes Gesamtbild ergibt. Die Programme sind also unterschiedlich, jeder hat spezielle Aufgaben, experimentiert mit Reifenmischungen, Benzinmengen, Aerodynamik-Einstellungen. Nur so kann das Team in der begrenzten Zeit möglichst viele Szenarien für Qualifikation und Rennen simulieren.

Die Datenmasse ist eine echte Herausforderung. Die 16 Ingenieure an der Strecke können da nicht allein den Überblick behalten. Also sitzen gleichzeitig 25 weitere Ingenieure in der Mercedes-Rennfabrik im mittelenglischen Brackley und erhalten von jeder Strecke der Welt mit minimalster Verzögerung sämtliche Informationen auch auf ihre Computer. Zudem wachen ein paar Kilometer weiter in der Motorenschmiede in Brixworth noch einmal 13 Triebwerksfachleute über alle Signale aus dem hochkomplexen Mercedes-Aggregat.

Runde für Runde entsteht so ein riesiges Datenpuzzle, dessen Teile Team und Fahrer so zusammenfügen müssen, dass das Auto sowohl am Samstag auf eine schnelle Runde wie am Sonntag auf eine komplette Renndistanz funktioniert. Denn zwischen Qualifikation und Rennen sind Änderungen am Auto verboten. Wer im Training am Freitag also die bessere Lösung findet, ist am Wochenende im Vorteil.

Da hat dann auch die Offenheit in der Mercedes-Box ihre Grenzen. "Es ist nicht so, dass wir dem anderen mitteilen: Guck mal hier, da hab ich eine Superlösung gefunden. Man muss beim anderen in den Daten selbstständig finden, was er da so anders macht", erklärt Rosberg.

Beziehung vergiftet

Die Rivalität zu Hamilton, mit dem er sich schon in Kindertagen bei Kartrennen duellierte, ist für Rosberg ein Zusatztreibstoff. Der erbitterte Titelkampf der beiden Vorjahre hat ihre Beziehung vergiftet. Um die Atmosphäre in der Box zu entkrampfen, hat das Team die drei Spitzenmechaniker beider Fahrer vor dieser Saison dem jeweils anderen Piloten zugeteilt.

Also gibt der frühere Nummer-1-Mechaniker von Hamilton nun Rosbergs Crew die Kommandos. Cool klappt Rob, ein kräftiger Brite, jetzt seine beiden Zeigefinger auseinander als Signal an seine Kollegen, Rosbergs Auto noch einmal fahrbereit zu machen. Jeder hat hier seine Rolle, an den Reifen, am Heck oder eben als derjenige, der den über Rosberg hängenden Bildschirm vom Auto wegdreht.

Im Winter hat diese Crew den neuen Silberpfeil gemeinsam aufgebaut. 25.000 Einzelteile - ohne Motor. So etwas schweißt zusammen. Die Abläufe an der Box schleifen sich dann in den Testfahrten vor der Saison ein. An den Trainingstagen werden die Prozesse für Situationen mit Zeitdruck und für Gefahrenlagen immer wieder eingeübt. Alles soll planbar sein, jede Überraschung eliminiert werden - auch wenn das der Natur des Sports widerspricht.

Und doch geht diesmal nicht alles glatt. Als am Ende des Trainings ein schneller Reifenwechsel simuliert werden soll, steuern Hamilton und Rosberg kurz nacheinander die Box an. Hamiltons Auto aber steht zu lange, sofort wird der Ton am Funk rauer. Mechaniker sprinten quer durch die Garage, eilig wird Hamilton rückwärts hineingerollt, nur einen Wimpernschlag, bevor Rosberg heranbraust. Gerade nochmal gut gegangen.

Hinter der ganzen Routine und dem festen Gerüst des Trainingsplans wird so kurz der Druck sichtbar, unter dem gerade der Branchenführer Mercedes an jedem Streckentag steht. "Wenn wir da sitzen, überwiegt die Angst vor dem Verlieren alles. Die Nervosität, die Anspannung ist schon sehr hoch", sagt Motorsportchef Wolff.

Auch Rosberg, der nun aus dem Cockpit klettert und wie immer als erstes das Gespräch mit Renningenieur Ross sucht, kennt diese Angst vor der Niederlage, das bleierne Gefühl des Scheiterns. Aber spätestens diese Anfangsmonate der Saison 2016 haben gezeigt, dass die Last des Verlierens diesen Nico Rosberg nur stärker gemacht hat.

(dpa)
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