Brieftauben-Wettbewerbe Das Rennpferd des kleinen Mannes

Nettetal · Der Blick geht nach oben. Am Himmel ist nichts zu sehen. Gar nichts. Man ist nach einer Weile froh, dass eine vorbeiziehende Wolke für etwas Abwechslung sorgt. "Da kommt sie", sagt plötzlich Theo Lehnen. Man sucht den Horizont ab, nichts.

 Walter Franke, der Taubenversorger in Diensten von Theo Lehnen, lässt einen Vogel aus dem Schlag in Nettetal.

Walter Franke, der Taubenversorger in Diensten von Theo Lehnen, lässt einen Vogel aus dem Schlag in Nettetal.

Foto: Detlef Ilgner

Der Züchter, 78, zeigt hinauf und blitzschnell wird aus einem klitzekleinen Punkt hoch in der Luft eine Taube, die mit kräftigem Flügelschlag in immer engeren Bahnen über der Lagerhalle in Nettetal kreist. Es ist der Moment, in dem Lehnen diesen Satz sagt, der so viel über das erklärt, was er liebt. "Mir geht jedes Mal wieder das Herz auf", erzählt er, "wenn nach einem Ausflug viele Kilometer entfernt die Vögel nach einer Weile wieder alle nach Hause kommen."

Lehnen, früher Inhaber einer Spedition, ist seit 1976 Taubenzüchter. Er zählt zu den besten in einer Szene, die immer überschaubarer wird. Noch in den 1980er-Jahren hatte der Brieftaubenverband mehr als 100.000 Mitglieder, nun sind es nur noch rund 40.000, Tendenz stark fallend. Es gibt große Nachwuchsprobleme. Dazu kommt eine gesellschaftliche Entwicklung - niemand hat Lust auf einen Taubenschlag in der Nachbarschaft. "Die Leute regen sich doch schon wegen einem Wellensittich auf der Terrasse auf", sagt Lehnen. Die Hochburg ist nach wie vor das Ruhrgebiet, dazu gibt es große Reisevereinigungen in Niedersachsen und Hessen. Fast ausschließlich Männer beschäftigen sich mit dem Hobby, die meisten sind längst im Rentenalter.

Verschiedene Räume für die Tauben

Lehnen ist Züchter und Rennstallbesitzer. In seinem Schlag gibt es verschiedene Räume. In dem einen sind die Tauben mit den besten Veranlagungen, in einem anderen die Jungtiere, die noch trainiert werden müssen, und im nächsten sind die gefiederten Spitzenathleten. Tauben, die bei Preisflügen bis zu 650 Kilometer weit entfernt ausgesetzt werden — und dann in nur wenigen Stunden den Weg zurückfinden. Neulich, bei einem Wettkampf, sind die Tauben in Neumarkt in der Oberpfalz gestartet, Luftlinie etwa 430 Kilometer entfernt. Die ersten Vögel sind bereits nach 3:46 Stunden wieder im Schlag gewesen, das entspricht einer Durchschnittsgeschwindigkeit von 105 Kilometern pro Stunde. "Kommt ganz auf den Wind an", erklärt Lehnen. "Im Schnitt fliegen die Tauben 70 bis 80 km/h, in der Spitze sogar an die 140 km/h." Wie sie das mit der Navigation machen, ist noch nicht erforscht. Es gibt nur ein paar Theorien. Manche sagen, sie würden sich nach der Sonne und den Sternen richten, nach dem Magnetsystem der Erde, in der näheren Umgebung sollen sie sich nach dem Geruch orientieren.

In den Anfangszeiten des Taubensports gehörte es zum guten Ton, bei den Zeiten kräftig zu mogeln. "Da wurden die Tauben aber auch noch nicht elektronisch erfasst", erklärt Hans Ohloff, 69, Mitglied im Präsidium des deutschen Brieftaubenverbands. "Heute ist pfuschen nicht mehr drin. Ausgeschlossen." Jedes Tier hat zwei Ringe. Der Verbandsring ist der Personalausweis, daran lässt sich ablesen, wem die Taube gehört. Auf dem Chipring ist zudem ein Aufkleber mit der Nummer des Züchters. "Sollte sich mal ein Tier verirren, kann man mich so jederzeit erreichen", sagt Lehnen. "Wenn es in der Nähe ist, komme ich selbst, ansonsten werden sie von einem Sammeltransport geholt."

Die Tauben werden in einem so genannten Kabinenexpress zum Start gebracht, pro Box 20 Stück, je nach Größe des Lasters können bei einer Tour bis zu 4000 Tauben transportiert werden. In festgelegten Abständen werden die Tiere während so einer Fahrt kontrolliert, sichergestellt, dass alle ausreichend Flüssigkeit bekommen. Die Rennleiter informieren sich vor einem Flug immer über die Wettersituation, die Tiere sollen nicht ohne Not in ein Gewitter geraten. Ohloff berichtet von derartigen Vorschriften bis ins kleinste Detail. Ihm ist dieser Punkt besonders wichtig, denn immer wieder gibt es Vorwürfe von Tierschützern. "Bei uns ist alles ganz transparent, das Wohl der Tiere steht an erster Stelle", sagt er.

Vielmehr müsse man darüber sprechen, wie auch gut gemeinter Tierschutz aus dem Ruder laufen könne. Es geht um Raubvögel. Nach Ansicht vieler Brieftaubenfreunde gibt es eine Überpopulation, erzeugt eben von Tierschützern, die zum Beispiel Habichte in Volieren mit Tauben füttern. "Wir haben nichts gegen Raubvögel, aber es gibt mittlerweile einfach zu viele", berichtet Ohloff. "Deshalb lassen die meisten Züchter ihre Tauben im Winter nicht fliegen, erst im Frühjahr wieder - aus Angst, zu viele Tauben zu verlieren."

Tauben-Gegner beschweren sich über Kot

Die Brieftaubenlobby hat es nicht einfach. Denn es gibt viele schlechte Botschafter. Menschen regen sich über Tauben auf, über den Kot, der überall liegt, die Rede ist von den "Ratten der Lüfte". Lehnen und Ohloff hören solche Klagen oft. Sie schütteln den Kopf, weil es aus ihrer Sicht so wäre, als würde man einen Formel-1-Boliden mit einem gewöhnlichen Straßenauto vergleichen. "Eine Brieftaube würde sich niemals zu einer Stadttaube gesellen", sagt Lehnen. "Die Tauben eines guten Züchters sind entweder in der Luft oder im Schlag, aber nicht auf anderen Dächern."

Auch in Sachen Hygiene ist das eine andere Liga. Lehnen badet seine Tauben einmal die Woche, Ohloff sogar zwei Mal. Dazu gibt es allerlei Pflege — spezielles Futter, Vitamine, Jod und Eisen, Schwarzkümmel- und Knoblauchöl, dazu ständige Untersuchungen. Gibt es im Taubensport auch Doping? "Es gibt nichts, was es nicht gibt", sagt Ohloff. "Aber es gibt strenge Kontrollen. Wir haben eine Dopingliste mit Präparaten, die nicht genommen werden dürfen. Gibt es bei einem Züchter Auffälligkeiten, bekommt er unangemeldeten Besuch von den Kontrolleuren." Bei Tauben wird eine Kotprobe genommen.

Brieftaubenzucht kann ein lukratives Geschäft sein. Allerdings nicht mehr innerhalb von Deutschland, da ist der Markt auch durch das Internet komplett eingebrochen. Einstiegspreis für ein Tier sind 100 Euro. Vor ein paar Monaten ist auf einer Auktion eine Taube für 320 000 Euro versteigert worden - den Zuschlag hat ein anonymer Bieter aus China bekommen. "China, Japan, Taiwan - das ist der neue große Markt", sagt Ohloff. "Die Asiaten sind total verrückt danach. Die wetten ja auf alles." In Düsseldorf ist unlängst eine Taube gestohlen worden, erzählt Lehnen. "AS 969, sechs Jahre alt." Der Versicherungswert wurde auf 150 000 Euro geschätzt. "Absolut gerechtfertigt", findet Lehnen, schließlich habe es sich um ein herausragendes Zuchttier gehandelt, vergleichbar mit dem Hengst Totilas bei den Dressurpferden.

Lehnen blickt wieder zum Himmel hoch. Es fehlen noch ein paar Tauben, die auf einer Trainingsrunde sind. "Die kommen schon noch", sagt er mit ruhiger Stimme. "Es geht bei diesem Sport nicht um die beste Ausrüstung und um Geld. Es geht um das Gefühl für die Tiere. Wenn man das nicht hat, wird man niemals erfolgreich sein."

Es gibt einen Ort, wo Theo Lehnen besonders glücklich ist. Es ist sein Taubenschlag.

(RP)
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