Dallas Zwischen Versöhnung und Hass

Dallas · Nach den tödlichen Schüssen in Dallas fühlen sich viele an 1968 erinnert. Das Jahr, in dem Martin Luther King und Robert Kennedy ermordet wurden und überall Unruhen ausbrachen.

Es war John Lewis, das lebende Denkmal der Bürgerrechtsbewegung, der den Finger direkt in die Wunde legte. Manchmal habe er das Gefühl, als ob man ihn wieder hinabrutsche, den Hang, den man zu erklimmen versuche, sagte der Kongressabgeordnete aus Georgia. Er marschierte einst neben Martin Luther King, um mit gewaltlosem Widerstand die Mauern der Rassentrennung zum Einsturz zu bringen. Die Narben des Rassismus seien noch immer schmerzhaft zu spüren, "wir müssen uns ihrer annehmen", mahnte der 76 Jahre alte Politiker, als die Polizistenmorde in Dallas ihre Schockwirkung entfalteten.

Der Horror von Dallas, darin ist sich das Land einig, bedeutet eine Zäsur, er kann sogar einen Wendepunkt markieren. Nur bleibt unklar, in welche Richtung es geht. Ob man ungeschminkt über unangenehme Wahrheiten rede und dabei zu einem sinnvollen Dialog finde, oder aber sich in die Gewissheiten des eigenen Stammesdenkens zurückziehe, dies sei die offene Frage, sagt David Brooks, einer der Starkolumnisten der "New York Times". Wobei er mit dem Stammesdenken weniger die Konstellation Schwarz gegen Weiß meint, sondern vielmehr die Gräben, die sich immer tiefer durch die Gesellschaft zu ziehen scheinen.

Auf der einen Seite das aufgeklärte, tolerante, optimistische Amerika, auf der anderen Seite das verunsicherte, skeptische, sich nostalgisch nach "guten alten Zeiten" sehnende, das sich nun in seinen Vorurteilen bestätigt sieht.

Nach Dallas ist eine Jahreszahl in aller Munde. 1968. Das Jahr, in dem Martin Luther King und Robert Kennedy ermordet wurden, in dem überall Unruhen ausbrachen, Geschäfte in Flammen aufgingen, ganze Straßenzüge verwüstet wurden. Droht 2016 zu einem zweiten 1968 zu werden? Barack Obama beantwortet die Frage mit einem klaren Nein. Die USA seien bei weitem nicht so gespalten, wie manche es jetzt suggerierten, betonte er am Rande des Nato-Gipfels in Warschau. Was die Nation eine, sei der Zorn auf einen kranken Attentäter, der das schwarze Amerika ebenso wenig repräsentiere, wie der Todesschütze von Charleston das weiße Amerika repräsentiert habe - jener Dylann Roof, der in einer afroamerikanischen Kirche in South Carolina auf Gläubige schoss.

Vieles von dem, was 1968 das Pulverfass explodieren ließ, gebe es 2016 glücklicherweise nicht, argumentieren die Optimisten: kein Vietnamkrieg, keine Welle politischer Hinrichtungen. Allein schon der Marsch, mit dem die Aktivisten von "Black Lives Matter" in Dallas gegen die vorangegangenen Exzesse von Baton Rouge und St. Paul protestierten: War er nicht der beste Beweis für die Funktionsfähigkeit einer offenen Gesellschaft? Friedliche Demonstranten versammelten sich, um ihren Unmut über das Vorgehen von Polizisten kundzutun, und das unter dem Schutz von Polizisten, die am Ende ihr Leben riskierten.

Dann wieder ist es ausgerechnet ein Ordnungshüter, der die kritischsten Worte findet zum Status quo. Edward Flynn, Polizeichef der Stadt Milwaukee, sagt ohne Umschweife: "Wir sind das am schwersten bewaffnete, am ehesten zur Gewalt neigende Land der industrialisierten Welt, und es sind Afroamerikaner, die am meisten darunter leiden". Die höchste Kriminalitätsrate, die schlimmste Armut, die schlechtesten Bildungschancen, das alles komme zusammen in Vierteln, in denen überwiegend Afroamerikaner leben. "Und was tun wir? Wir bürden der Polizei unsere sozialen Probleme auf."

Auch nach Dallas fehlt es nicht an Wortmeldungen, die wie Öl ins Feuer wirken. Den rhetorischen Tiefpunkt hat Joe Walsh erreicht, ein Republikaner aus Illinois, der zwei Jahre lang im Repräsentantenhaus saß und via Twitter Zeilen voller Hass in die Welt setzte, bevor er den Eintrag löschte. "Das ist jetzt Krieg. Pass auf, Obama. Passt auf, ihr Armleuchter von Black Lives Matter. Das wahre Amerika ist euch auf den Fersen." William Johnson, Direktor einer Berufsorganisation von Polizisten, vergleicht den Präsidenten der USA mit dem britischen Premier Neville Chamberlain, dem Appeasement-Politiker des Münchner Abkommens. "Was wir erleben, ist ein Krieg gegen die Cops, und Obama ist Neville Chamberlain."

Zu beobachten ist aber auch der Versuch der politischen Klasse, die Gemüter zu beruhigen. Sogar Donald Trump verzichtete auf die Verbal-Keulen, zu denen er sonst gern greift, während seine Rivalin Hillary Clinton zu einem Dialog der Vernunft aufrief. Bemerkenswert sind auch Töne, wie sie diesmal - abgesehen von Walsh - aus den konservativen Reihen zu hören sind. Newt Gingrich, einst der parlamentarische Gegenspieler des Präsidenten Bill Clinton, spricht davon, dass man in Amerika offenbar gefährlicher lebe, wenn man schwarze Haut habe. Als Schwarzer, so Gingrich, "kommst du sehr viel wahrscheinlicher in eine Lage, in der dich die Polizei nicht respektiert".

(RP)
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