Neues Buch "Wunschdenken" Thilo Sarrazins Wunsch-Deutschland

Berlin · Mit seinem neuen Buch bleibt der umstrittene Autor seinen alten provokanten Thesen von kinderreichen wie minderbegabten Migranten treu. Jetzt versucht er sich auch an Empfehlungen für ein besseres Regieren.

 Thilo Sarrazin und sein "Wunschdenken".

Thilo Sarrazin und sein "Wunschdenken".

Foto: dpa, bvj pzi

Hat Deutschland zu viele Flüchtlinge? Zu viel Euro-Mitleid mit den Griechen? Zu viel Ideologie in der Bildung? Auf jeden Fall hat es zu wenig Sarrazin. Zumindest nach Auskunft des neuen 600-Seiten-Wälzers jenes früheren Berliner Finanzsenators und Bundesbank-Vorstands Thilo Sarrazin, der vor sechs Jahren mit seinem Bestseller "Deutschland schafft sich ab" eine Welle von Ressentiments gegen Migranten aufschaukelte. Vor vier Jahren trat er als Buchautor den Euro analytisch in den Müll, vor zwei Jahren holte er gegen den "Tugendterror" in den Medien aus - und nun gelobt er, der Fundamentalkritik konkrete Lösungen folgen zu lassen: wie denn besser regiert werden könnte.

Es ist ein verwinkeltes Buch dabei herausgekommen: "Wunschdenken" entzieht sich der Erwartung, tragendes wissenschaftliches Fundament des aktuellen Rechtspopulismus werden zu können. Gleichzeitig wirft es der "Merkel muss weg"-Propaganda willigst Belegfetzen entgegen. Zumindest verdrängte es bereits kurz nach dem Start die kommentierte "Mein Kampf"-Edition vom ersten Platz der Bestseller-Liste.

Sarrazin versucht in seinem Buch, tief zu wurzeln. Dutzende von Seiten befasst er sich mit den Staats- und Gesellschaftsentwürfen von Platon bis Thomas Morus, geißelt die Utopien und stellt seine Fans vor die Herausforderung, ihr Lesevergnügen erst einmal über komplexe und passagenweise in Englisch geführte Theorieschilderungen hinüberretten zu müssen. Das "Niveau der kognitiven Elite", wie es sich "anhand des Durchschnitts-IQs des 5. Perzentils" ermitteln lasse, dürfte beim einen oder anderen Leser Zweifel an seiner Zugehörigkeit zu dieser kognitiven Elite auslösen.

Doch er kann sich stets darauf verlassen, dass Sarrazin die zentralen Thesen seines Erstlingwerkes über minderbegabte Migranten als roten Faden auch durch sein viertes Buch zieht.

Verlassen kann sich der Leser jedoch nicht darauf, dass zunächst sachlich die theoretischen Prüfgerüste aufgebaut werden, an denen die Praxis dann zu erproben ist. Schon in diesem Stadium gehen Sarrazin die Gäule durch, schäumt er gegen die deutsche Klimapolitik: "Es wäre utopisch und unvernünftig sowie in Bezug auf die Zielsetzung völlig sinnlos, die deutsche Industrie und den deutschen Wohlstand zu gefährden, um durch Reduktion des deutschen CO2-Ausstoßes das Weltklima zu retten." Zweihundertdreiundvierzig Seiten weiter ist er differenzierter geworden und verweist darauf, wie wichtig das deutsche Vorbild sei, um das Verhalten anderer zu beeinflussen, zumal Deutschland 11,5 Tonnen CO2 pro Kopf produziere, im Gegensatz zum weltweiten Ziel von 1,5 Tonnen.

Genau dieses Auseinanderbrechen zwischen faktengesättigten und tabellengetränkten Sachverhaltsschilderungen und simplifizierenden Schlussfolgerungen bildet das eigentliche Problem. Er fächert auf und lässt ahnen, wie vielschichtig etwa die Aussagen zur Intelligenz des Menschen sind. So liefert er die Information, dass türkischstämmige Migranten im niederländischen Bildungssystem bessere Wissensnachweise liefern als im deutschen, transportiert aus diesem Zusammenhang aber vor allem die Erkenntnis, dass muslimische Migranten weniger begabt seien, in die folgenden Schlussfolgerungen.

Der Zahlen-Jongleur

Spektakulär sind seine Berechnungen, wonach der Flüchtlingszustrom bis zum Jahr 2050 durch Nachzug und Nachwuchs auf eine neue Migrantengruppe von 135 Millionen hinauslaufen könnte. Oder auf sechs Millionen. Und was ist dann der wissenschaftliche Ertrag dieser Zahlen, zumal Sarrazin die Rückkehr nach Syrien nicht einmal als Möglichkeit berücksichtigt?

In seinem Kapitel über Merkels kapitalen Fehler verweist Sarrazin auf das seit Jahren schon nicht mehr eingehaltene Dublin-Abkommen, auf die sich lange abzeichnende Flüchtlingsentwicklung, die den Innenminister die Erwartungen auf 800.000 hochschrauben ließ, und hält dann fest, dass die Zahl erst "explosionsartig" zugenommen habe, nachdem Merkel am 4. September die Grenzen "geöffnet" habe. Ein Fünftel mehr ist dann "die Explosion" und der Beleg für Merkels Scheitern?

In seinem Plädoyer für Grenzschließungen arbeitet sich Sarrazin an Merkel ab, weil sie nicht erklären könne, warum sie Kontrollen an den Außengrenzen für durchsetzbar hält, obwohl sie glaubt, dass Kontrollen an den Binnengrenzen nicht funktionierten. Doch liefert er nicht den Gegenbeweis, setzt sich auch nicht mit den ökonomischen Folgen auseinander und bezieht in sein Lösungsszenario Merkels Konzept mit ein. Ja, seine Empfehlungen für eine bessere Flüchtlingspolitik lesen sich wie eine Zusammenfassung dessen, was in den Vorhabenpapieren in Berlin und Brüssel aufgeschrieben wurde.

Viel Anregendes, viel Ernstzunehmendes - aber auch viel analytischer Unsinn

Sarrazin rühmt sich, die Berliner Bankenpleite in den Griff bekommen zu haben. Die Nürburgringpleite wäre mit ihm nicht passiert, und hätte Berlins Regierender Bürgermeister auf ihn gehört, gäbe es auch das BER-Flughafen-Fiasko nicht. Aber stünde Deutschland wirklich besser da, wenn es nach Sarrazin-Art regiert würde, wenn es entsprechend der von ihm gefeierten Erfolge seiner Senatorenzeit nun überall weniger Polizisten, weniger Richter, weniger Lehrer und höhere Mieteinnahmen gäbe?

Mit seinen Empfehlungen zwischen Klugheit und Naivität driftet Sarrazin häufig ins Abstruse ab. Da empfiehlt er der Bundeswehr größere Zurückhaltung im Mittelmeer, will zugleich aber die Mittelmeerflüchtlinge in ihre Herkunftsländer zurückbringen. Sein Lösungsansatz: mit Kriegsschiffen in die libyschen Hoheitsgewässer eindringen und die Aufnahme erzwingen. Sarrazins "Wunschdenken" enthält viel Anregendes, viel Ernstzunehmendes, aber auch viel analytischen Unsinn.

(RP)
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