Analyse Wie sicher sind Juden in Deutschland?

Berlin · Innenminister Thomas de Maizière zeigt sich besorgt über einen starken Anstieg antisemitischer Straftaten. Die Union will nicht länger hinnehmen, dass "Jude" an Schulen zum Schimpfwort wird, und fordert Verweise.

 Josef Schuster (61) ist seit November 2014 Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland.

Josef Schuster (61) ist seit November 2014 Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland.

Foto: dpa

7000 Juden haben Frankreich im vergangenen Jahr den Rücken gekehrt, weil sie sich in Europa nicht mehr sicher fühlten. Die Stimmung hat sich im Nachbarland weiter verschlechtert, seit ein Islamist einen jüdischen Supermarkt überfiel und vier Menschen tötete. Aber auch in Deutschland steckt vielen Juden der massive Antisemitismus noch in den Knochen, der vor einem Jahr vor dem Hintergrund der blutigen Auseinandersetzungen zwischen Israelis und Palästinensern um sich griff. Wie sicher sind Juden in Deutschland heute?

"Sehr hart" arbeite der Staat daran, jüdisches Leben in Deutschland so sicher wie möglich zu machen, sagt Innenminister Thomas de Maizière (CDU). Dennoch muss er einräumen, dass die Zahl antisemitischer Straftaten in Deutschland innerhalb eines Jahres um 25 Prozent zugenommen hat. "Dieser Anstieg ist massiv, und er ist besorgniserregend", stellt der Minister fest. Aber ist es ein Problem allein mit extremistischen Gewalttätern?

Josef Schuster, Präsident des Zentralrates der Juden in Deutschland, verweist auf andere Zahlen: 20 Prozent der Bevölkerung in Deutschland sei laut einschlägigen Studien latent antisemitisch eingestellt. "Das sind 16 Millionen Menschen", rechnet Schuster vor - und setzt diese Zahl ins Verhältnis zu den 100 000 Juden in Deutschland. "Das sind 0,128 Prozent." Er hat auch 70 Jahre nach dem Holocaust noch keine Antwort auf eine zentrale Frage gefunden: "Wie konnte der Antisemitismus Auschwitz überleben?" Heute betrachteten zwei Drittel der Juden "Antisemitismus als Problem in ihrem Land".

Bei einem Kongress über jüdisches Leben in Deutschland macht Unionsfraktionschef Volker Kauder auf eine prekäre Entwicklung in deutschen Schulen aufmerksam. Auf den Schulhöfen seien "Schwuler" und "Jude" zu Schimpfwörtern geworden. Der frühere Neuköllner Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky berichtet, dass jüdische Lehrer vorsichtshalber ihren Glauben verheimlichten. Besonders wenn sie es mit Migranten aus arabischen Ländern zu tun hätten. Diese hätten den Judenhass "mitgebracht".

Gibt es also einen importierten Antisemitismus? Lisa Scheremet, Lehrerin an einer Hauptschule in Niedersachsen, bejaht das nicht nur, sie findet es geradezu "unglaublich", welche Ausmaße dieses Phänomen bereits angenommen habe. Da bekunde ein Elfjähriger an ihrer Schule: "Ich hasse Angela Merkel, weil die Geld an Israel gibt und damit Palästinenser getötet werden." Diese Weltsicht erklärt den Export antiisraelischer Reflexe. Aber sie erklärt nicht, warum Juden in Deutschland für die Handlungen eines Staates 4000 Kilometer entfernt verantwortlich gemacht werden, warum hier Slogans auftauchen, die an die finstersten Zeiten des Genozids anknüpfen: "Hamas, Hamas, Juden ins Gas."

Die Gewalt ist zudem auch unabhängig von aktuellen Geschehnissen in Israel präsent. Vor zwei Jahren wurde in Berlin der Rabbiner Daniel Alter von arabisch wirkenden Tätern vor den Augen seiner Tochter zusammengeschlagen - weil er eine Kippa trug, also eine jüdische Kopfbedeckung. Seitdem tritt er mit ihr nur noch in geschützten Räumen in Erscheinung. Auf der Straße verbirgt er sie unter einer Basecap. In "problematischen" Stadtbezirken verzichte er ganz darauf.

Kauder kritisiert die Mentalität in Schulleitungen und Schulverwaltungen, über das wachsende Problem hinwegzusehen. Es reiche auch nicht, die antisemitischen Beleidigungen und Angriffe auch nur verbal auszugrenzen. Wer sie nicht akzeptiere, der müsse auch Konsequenzen ziehen - etwa Schulverweise für aggressive Antisemiten.

Vom Schulhof zum Islamismus: De Maizière verweist auf die antisemitischen Parolen in der salafistischen Propaganda - und darauf, dass in der jüngeren Vergangenheit eine "immer größer werdende Dynamik des salafistischen Personenspektrums" zu beobachten sei, und zwar "überall in Europa". Zudem hinterfragt der Minister die Präventionsprogramme. Diese sollten verhindern, dass junge Menschen zu Antisemiten werden. De Maizière ist sich jedoch nicht sicher, ob das die richtigen Antworten in einer Situation seien, in der man es bereits mit Antisemiten zu tun habe. "Null Toleranz" lautet seine Schlussfolgerung.

Schuster greift diese Forderung nur zu gerne auf. Er sieht jedoch nicht nur Politik und Polizei in der Pflicht: "Die emotionale Sicherheit muss aus der Zivilgesellschaft geschaffen werden." Schuster selbst will nicht den Warner geben, hinter die Worte "jüdisches Leben in Deutschland" kein Fragezeichen, sondern immer nur ein Ausrufezeichen setzen. Aber er bestätigt natürlich, dass in jüdischen Gemeinden über die Frage gesprochen werde, wie sicher man als Jude in Deutschland noch sei.

Eine Ausreisewelle wie in Frankreich ist in Deutschland nicht zu registrieren. Und eine in diesem Zusammenhang gute Botschaft hat Schuster auch aus einer Umfrage mitgebracht. Unter den Juden, die einen Wechsel nach Israel in Betracht zögen, wolle mehr als die Hälfte das "aus zionistischen Gründen". Die Motivation liegt hier also nicht darin, aus Deutschland weg-, sondern in Israel anzukommen.

Für Schuster ist die Prognose für jüdisches Leben in Deutschland umso günstiger, je früher Ursachen und Symptome bekämpft werden. Das fange bei einem NPD-Verbot an, müsse aber weiter gehen. Keinen Ort in Deutschland dürfe man zu einem braunen Sumpf werden lassen, und auch die Linken sollten mit mancher ihrer Kritik "sensibler" umgehen. De Maizières will am liebsten in einem Land leben, in dem jüdische Kinder unbesorgt aufwachsen können, ohne dass jüdische Einrichtungen geschützt werden müssen. Dieser Wunsch scheint auf lange Sicht unerfüllbar zu sein.

(may-)
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