Gastbeitrag von Andreas Pinkwart Wider die Müdigkeit

Düsseldorf · Über Studien zum schlechten Schulwesen empört sich in Deutschland kaum einer mehr. Zu Unrecht: Die Länder müssen besser zusammenarbeiten und wieder mehr Geld in Bildung investieren. Gastbeitrag von Ex-NRW-Wissenschaftsminister Andreas Pinkwart.

 Unterrichtssituation in einer Schule in Wiesbaden. (Symbolbild)

Unterrichtssituation in einer Schule in Wiesbaden. (Symbolbild)

Foto: dpa, fve wst rho

Als die Deutschen vor fast zwei Jahrzehnten durch die Pisa-Studie erfuhren, dass ihren Kindern in der Schule weniger beigebracht wird als deren Altersgenossen in den meisten anderen Ländern, ging ein Aufschrei durchs Land. Zu Recht. Zumal sich hier laut Studie auch noch die soziale Herkunft stärker auf die Leistungen auswirkte als fast überall sonst in der Welt.

Die aus diesem Pisa-Schock entstandene Welle der Empörung mündete in eine Welle der Reformen, die viel Gutes bewirkt, aber offensichtlich auch müde gemacht hat. Denn nach zunächst deutlichen Leistungsverbesserungen unmittelbar nach Pisa lagen deutsche Schüler in Mathematik zuletzt unter OECD-Durchschnitt. Vor allem die Begabten stagnieren in ihrem Können. "Die starken Schüler", heißt es in der auf naturwissenschaftliches Wissen ausgerichteten TIMMS-Studie, "geraten aus dem Blick." Beim Anteil der Spitzenschüler erreicht Deutschland den 25. Platz unter den 48 teilnehmenden Staaten.

Empört hat das niemanden. Das allein ist kaum bedauernswert, wenn denn nicht die Bildungspolitik in Deutschland ohne öffentlichen Aufschrei immer ein wenig einzuschlafen drohte. Zwar ist es bequem, sich mit dem Mittelmaß zufriedenzugeben, aber es ist falsch. Bestmögliche Bildung für alle sollte als individuelles Grundrecht ebenso gelten wie als wichtige nationale Aufgabe.

Niemanden zurücklassen

Zugegeben: Das schwächere Drittel der Schüler ans Mittelmaß heranzuführen, kostet Kraft, und hier hat die Bildungspolitik durchaus Erfolge zu verzeichnen. Aber das darf nicht zu dem Preis geschehen, die Starken nicht mehr angemessen zu fördern. Gute Bildungspolitik muss beide Ziele verfolgen: niemanden zurücklassen und jeden zu Spitzenleistungen animieren.

Diese beiden Ziele müssen mittlerweile oftmals in ein und derselben Klasse verwirklicht werden. Die Spreizung innerhalb der einzelnen Klasse ist gewachsen, durch Migration, Inklusion, Gesamtschulen und den Zulauf der Gymnasien. Kein Problem, solange die Lehrer und die Schulen dafür fit gemacht würden, mit dieser Vielfalt umzugehen. Genau das aber passiert nicht.

Zwei Beispiele mögen das illustrieren. Erstens: Die Lehrerausbildung an den Universitäten und die Fortbildung der Lehrer, die bereits im Schuldienst sind, reagieren viel zu langsam auf die Veränderungen im Schulalltag. Wo bleiben Initiativen für eine Lern- und Unterrichtskultur, die unterschiedliche Begabungen und Talente gezielter zur Entfaltung bringt und Schülern wie Lehrern wechselseitig Freude am lebenslangen Lernen vermittelt?

Wieso verschlafen Schulen die Chancen der Digitalisierung?

Bund und Länder loben im jüngsten Bundesbildungsbericht, dass Lehrer in Deutschland zu den am besten bezahlten Lehrkräften der Welt zählen. Dies sei ihnen gegönnt. Aber wo bleiben attraktive Weiterbildungsangebote, landesweite Konzepte und - nach dem Vorbild der Ärzte - die Verpflichtung zur Teilnahme? Kein Unternehmen leistet es sich, so wenig Geld in die Fortbildung seiner Führungskräfte zu investieren wie im Landeshaushalt zur Lehrerfortbildung eingestellt ist.

Zweitens: Wenn individuelle Förderung das Zauberwort einer modernen Pädagogik für heterogene Klassen ist, wieso verschlafen Deutschlands Schulen die Chancen der Digitalisierung? Die eingangs erwähnte TIMMS-Studie förderte zutage: In keinem anderen Land nehmen so wenige Mathelehrer an Fortbildungen für den Einsatz digitaler Technik im Unterricht teil wie in Deutschland. Im Betrachtungszeitraum waren es gerade einmal 1,5 Prozent der Lehrkräfte. In Frankreich lag der Anteil sechs, in Polen sogar 30 Mal höher.

Dabei bietet die neue Technik Möglichkeiten, jedem Schüler ein persönlich auf seine Talente zugeschnittenes Set an Aufgaben zusammenzustellen. Aber bevor überhaupt halbwegs bekannt ist, wie modernes Lernen mit Hilfe von digitaler Technik aussehen kann, wird erbittert darüber gestritten, ob Smartphones im Unterricht angeschaltet sein dürfen oder ausgeschaltet sein müssen. Es macht manchmal den Anschein, als ob Analphabeten über Sinn- und Unsinn des Buchdrucks debattieren. Ein bisschen mehr Mut und Offenheit wären wünschenswert.

Die Starken nicht unterfordern

Sowohl Lehrerbildung als auch digitale Ausstattung der Schulen kosten Geld. Doch offenbar setzt die Politik andere Prioritäten. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt liegen die deutschen Bildungsausgaben unter dem OECD-Durchschnitt und haben sich seit 2010 relativ nicht mehr verändert. Interessanterweise korrespondiert das mit der Entwicklung der Schülerleistungen.

Bildungspolitik ist Ländersache und soll das auch zukünftig bleiben. Aber die Länder müssen bereit sein, mehr Geld für Bildung auszugeben. Sie müssen bereit sein, landesweite, durchdachte Konzepte für Lehrerbildung zu entwickeln und mit mehr Tempo umzusetzen. Und sie müssen bereit sein, voneinander zu lernen und gemeinsam daran zu arbeiten, Deutschland bei internationalen Leistungsvergleichen in die Spitzengruppe zu führen.

Das schafft man nicht, wenn man die Schwachen zurücklässt. Das erreicht man aber auch nicht, wenn man die Starken unterfordert. Wenn sich alle Parteien zu diesem Ziel bekennen, wäre das der nächste große, wichtige Schritt nach Beilegung des ideologie-beladenen Kampfes um die richtige Schulstruktur. Und zugleich eine ständige Mahnung gegen Müdigkeit in der Bildungspolitik.

(RP)
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