Analyse Wenn die Kirche die Hybris packt

Wittenberg · Viele Ausgaben, wenige Besucher - die Erwartungen von Kirchenvertretern an das Lutherjahr wurden bislang nicht erfüllt. Leere Ausstellungen und volle Dorffeste zeigen: Ein wenig Demut hätte den Veranstaltern gutgetan.

Die Musik ist sehnsuchtsvoll, südamerikanisch. Auf dem Marktplatz vor dem Alten Rathaus in der Lutherstadt Wittenberg steht eine kleine Bühne, eine Musikgruppe aus Chile tritt dort auf. Davor stehen Bierzeltbänke in der Sonne. Drei Personen haben darauf Platz genommen. Und im Schatten des Lutherdenkmals stehen einige Wittenberger, die vor einer Sitzung des Stadtrats für eine Hundeauslauffläche demonstrieren wollen. Ansonsten aber ist der Platz leer. Trauriger Alltag in der Stadt, in der Deutschlands Protestanten derzeit ihr Reformationsjubiläum feiern.

70.000 Eintrittskarten hat der Veranstalter, der Verein Reformationsjubiläum, für die noch bis Anfang September laufende "Weltausstellung Reformation" bislang verkauft. Erwartet worden waren 500.000 Gäste. Rund 20 Millionen Euro hat die Kirche für die Ausstellung ausgegeben. Herausgekommen ist der größte Flop des Jubiläumsjahres. Denn tatsächlich haben seit Jahresanfang erst 280.000 Menschen die Wittenberger Schlosskirche besucht, an deren Tür Martin Luther seine 95 Thesen angeschlagen haben soll. Anders sieht es außerhalb der Kirchenmauern aus: Seit Oktober 2016 besichtigten 250.000 Besucher das sehenswerte Luther-Panorama des Künstlers Yadegar Asisi. Zu Recht spricht das Land Sachsen-Anhalt deswegen von einem "Tourismus-Boom", die Zahl der Übernachtungen in den ersten fünf Monaten des Jahres stieg um 12,5 Prozent. Die Besucherzahl in Luthers Geburts- und Sterbehaus in Eisleben wuchs sogar um mehr als 150 Prozent, alle Lutherstätten zusammen verzeichneten bis Ende Juni 140.000 Besucher.

Luther interessiert die Menschen also - doch die kirchlichen Veranstaltungen bleiben leer. Die von Kirchenvertretern im Vorfeld geschürten Erwartungen haben sich nicht erfüllt. Schon die "Kirchentage auf dem Weg", bei denen parallel zum Berliner Kirchentag in einer Reihe von mitteldeutschen Städten Programm angeboten wurde, erwiesen sich als Reinfall. 50.000 Menschen waren in Leipzig erwartet worden, es kamen 15.000. Hätte man auf dieses Experiment verzichtet und wären alle Besucher aus Mitteldeutschland zum Berliner Kirchentag gereist, wäre es eines der größten Protestantentreffen der jüngeren Geschichte geworden.

Doch während auf dem Kirchentag selbst Bescheidenheit gepredigt und ein Ende des unbegrenzten Wirtschaftswachstums gefordert wurde, erlag die Kirche der alten Sünde der Hybris, des Übermuts. Statt die Feierlichkeiten auf ein gesundes Maß zu begrenzen, mussten sie immer größer werden - und das ging schief.

Zumal auch die praktische Durchführung an vielen Stellen unprofessionell, ja stümperhaft wirkt. Zum Beispiel die Werbekampagne: Zeichentrickfiguren, die Fragen stellen wie "Wie kommt das Himmelblau ins Alltagsgrau?", animieren nicht unbedingt zu einer Reise nach Wittenberg. Und wer im Jahr eines Kirchentags erst in Berlin war und dann noch einen Sommerurlaub am Mittelmeer plant, steht vor der Frage: "Wie viele Urlaubstage ist mir meine Kirche wert?", wenn er nun auch noch nach Wittenberg eingeladen wird.

Da ist es gut, dass die evangelische Kirche in diesem Jahr Rekordeinnahmen bei den Kirchensteuern zu verzeichnen hat: Denn die Veranstalter der "Kirchentage auf dem Weg" und der "Weltausstellung Reformation" haben mit gewissen Ticketeinnahmen kalkuliert. Es ist nicht ausgeschlossen, dass am Ende des Jahres noch Geld nachgeschossen werden muss.

Die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) jedenfalls wird das Lutherjahr bei ihrer Synode im November in Bonn gründlich analysieren müssen. Vor allem die Frage, wann und an welcher Stelle man die eine oder andere Veranstaltung besser abgesagt hätte, sollte dabei eine Rolle spielen. Denn es sind einzelne Veranstaltungen, um die es hier geht - insgesamt ist das Lutherjahr keineswegs ein Flop: Auf der Weltebene etwa gab es einen kirchenhistorisch einmaligen Buß- und Versöhnungsgottesdienst, den Papst Franziskus mit den Spitzen des Lutherischen Weltbundes im schwedischen Lund feierte. Erst kürzlich unterzeichnete der Reformierte Weltbund die gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre, auch das war ein kirchenhistorisches Ereignis. Und jenseits der großen Scheinwerfer, in vielen Kirchengemeinden vor Ort, laufen gut besuchte Vorträge und Diskussionsrunden.

Auch die Landeskirchen melden Erfolgsprojekte, zum Beispiel das Nordkirchenschiff: Die evangelisch-lutherische Landeskirche in Norddeutschland hatte sich gegen eine personalintensive Teilnahme an der Weltausstellung entschieden. Stattdessen setzt man auf die klassische Bädertournee: Seit Ende Juni segelt eine alte Dreimastbark die Häfen an der Küste ab. Verdiente Ehrenamtliche dürfen als Belohnung mitfahren, in den Häfen organisieren die Kirchenkreise Feste und Gottesdienste. Wenn die Menschen nicht nach Wittenberg, zur Reformation, fahren, kommt die Reformation eben zu den Menschen. 380.000 Euro hat die Nordkirche für dieses Projekt ausgegeben, 30.000 Menschen werden zum Projektende am 30. Juli das Schiff besucht haben. Ein altes Segelschiff macht die Menschen eben neugierig und lockt selbst Kirchenferne an.

Im Rheinland indes muss man für eine wichtige Veranstaltung noch kräftig werben. Für den 16. September laden der Deutsche Evangelische Kirchentag und der Katholikentag unter dem Motto "Wie im Himmel, so auf Erden" zu einem hochkarätig besetzten ökumenischen Fest nach Bochum ein. Man darf nach den Erfahrungen aus Wittenberg gespannt sein, ob es die Christen im Ruhrgebiet und entlang der Rheinschiene in ökumenischer Verbundenheit schaffen, dieses Fest zu einem Erfolg werden zu lassen. Im Jahr des Lutherjubiläums würde man es ihnen wünschen.

(RP)
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