Unsere Leitsterne Wem folgen wir?

Stern über Bethlehem, zeig mir den Weg! Die Weihnachtsgeschichte beginnt mit dem hellen Himmelskörper, der die Menschen zu Jesus führt. Was sind heute unsere Leitsterne? Wem folgen wir? Eine Antwort ist der Algorithmus. Andere sollten wir finden.

Für die Astronomen war die Sache sonnenklar: Das grelle Licht am Horizont konnte nur die Folge einer seltenen Konstellation der Planeten Mars, Saturn und Jupiter sein. Eine andere Theorie: Der Stern über Bethlehem war nur ein heller Komet.

Christen sehen das anders. Für die Bibeltreuen ist er der Fixstern über allem. Der Vorbote von Jesu Geburt. Eine Art Ur-Navi des Glaubens. In der Weihnachtskrippe, die Kirchen und Wohnzimmer schmückt, ist die Darstellung des Bethlehem-Sterns unverzichtbar. Die Historizität mag nicht geklärt sein, seine Wirkung ist mächtig.

Die Reise dem Stern hinterher stehe für den "Aufbruch der Menschen zu Christus", schreibt Papst Benedikt XVI. in seinem Jesusbuch. Die Menschen suchen Wahrheit und Weisheit in Gott. Der Stern führt sie dorthin, auch wenn ihm nur zwei Textstellen im Matthäus-Evangelium gewidmet sind.

Was sind unsere Fixpunkte?

Die Frage nun: Welches Licht leitet uns heute? Was sind unsere Fixpunkte? Spontan müsste man antworten: das Licht des Displays unseres Smartphones. Das Handy weist uns den Weg. Nicht wir haben es, es hat uns im Griff. Nachrichten. Chats. Meldungen. Posts. Pling. Pling. Pling. Der Algorithmus des Alltags. Immer mehr, immer online.

Wie die kalten, grauen Gestalten in "Momo" ziehen die digitalen Nomaden Zeit sparend durch das Leben, den Blick auf das Gerät. "Das Halten an der Ampel haben Handyaner zum Checkpoint für Kurznachrichten und zur Gelegenheit zur Quickresponse umfunktioniert", hat der Duisburger Soziologe Hartmut Strasser beobachtet.

Zehn Prozent aller Fußgänger tippen auf ihrem Smartphone, während sie über die Straßen gehen, berechneten unlängst Forscher der Sachverständigenorganisation Dekra. Die Folgen stehen in der Unfallstatistik. Im Internet ist ein Video der Hit, in dem eine junge Koreanerin in einem Einkaufszentrum in einen Brunnen stürzt. Sie schaute auf ihr Handy.

Jeder kann Star sein

Unser Leitstern heißt Galaxy. Samsung Galaxy. Morgens gilt dem Handy auf dem Nachttisch der erste Blick des Tages, abends wischt der Daumen nach rechts zum letzten Handgriff: Flugmodus. Zwischendurch: chatten, simsen, daddeln. Nichts berühren wir so häufig wie unser Smartphone. Im Schnitt schauen junge Menschen alle sieben Minuten auf ihr Telefon, das eigentlich keines mehr ist.

Die Motive sind vielfältig. Mediziner diagnostizieren Suchtphänomene. Eine Abhängigkeit von der Aufmerksamkeit. Eine neue Nachricht? Das Piepsen, mit dem uns die App auffordert, sie mal wieder zu öffnen. Die Angst, etwas zu verpassen. Sorge vor dem Nichtstun. Narzissmus.

Hat jemand noch ein Like für mich? Das Netz verbindet die Welt, aber es liebt Individualisten. Weil jeder Star sein kann. Muße ist verpönt. Und wenn, muss sie als Wellness-Event frühzeitig im Outlook-Kalender geblockt werden. Laut einer Studie würde jede zweite Frau in den USA lieber eine Woche auf Sex verzichten als auf ihr Smartphone.

Bei van Gogh hieß das Selfie Selbstporträt

Nun könnte man einwenden, dass sich Kommunikation schon immer verändert hat. Heute ist sie mobil und virtuell, weil es technologisch geht und bequem ist. Die Bedürfnisse nach Ablenkung und Aufmerksamkeit sind aber nicht neu. Früher wollten Teenager auch nicht länger als 15 Minuten an der Kaffeetafel ihrer Eltern sitzen, sie gingen spielen oder bolzen.

Im Bus, in der Bahn lasen Reisende in Zeitungen und Büchern, heute eben auf dem Smartphone. Und bei van Gogh hieß das Selfie Selbstporträt. Der Whatsapp-Chat funktioniert nicht anders als die Gartenparty, die Facebook-Gruppe nicht anders als der Stammtisch. Stimmt es also, dass sich eigentlich nur der Kanal, nicht die Kommunikation verändert?

An festlichen Tagen wie diesen, an denen Reflexion und innere Einkehr quasi kalendarisch verordnet sind (wenn schon nicht religiös verankert), können wir gut darüber nachdenken, ob unser digitales Verhalten das zwischenmenschliche beeinflusst. "Der Takt hat die Moral, die Höflichkeit als Hauptregulator des menschlichen Handelns ersetzt", behauptet Strasser.

"Hurry sickness"

Beobachtungen stützen seine These. Rempler und Rüpler sind bei Facebook en vogue. Das Grobschlächtige dominiert in Netz-Diskussionen. Wer nicht für mich ist, ist gegen mich! Das schnelle Urteil floriert, die Flüchtigkeit auch. Personen und Positionen werden in sorgfältig sortierte Schubladen gesteckt.

Zuhören? Sich von einem Argument überraschen, geschweige denn überzeugen lassen? Die Ungeduld ist omnipräsent. US-Mediziner sprechen von der "hurry sickness", der Hetzkrankheit. Diese Patienten folgen dem Irrglauben, dass sie, wenn sie alles beschleunigen können, auch alles erreichen.

Die Folgen sind: chronische Herzbeschwerden, Arthritis, Magengeschwüre, nervöse Spannungen. Der digitale Takt treibt diese Entwicklung, da sind sich Soziologen, Psychologen und Mediziner ausnahmsweise einig. Achtsamkeit ist ja auch deswegen das Trend-Thema in den Bestsellerlisten, weil Menschen spüren, dass sie verloren geht. "Wir kommen uns selbst abhanden", sagt die Psychologin und Buchautorin Gisela Kaiser und meint damit den Verlust der Möglichkeit, auf Mitmenschen wirklich einzugehen.

Wann haben Sie zuletzt einfach so an der Bushaltestelle geplaudert? Wann dem Nachbarn, dem Kollegen, der Bäckereifachverkäuferin wirklich zugehört? Es gibt Menschen, die umkurven die liebenswürdige, aber gesprächige ältere Frau im Supermarkt, weil sie nicht "zugequatscht" werden wollen.

Es gibt Mütter, die trauen sich nicht, ihren Sohn anzurufen, weil "der ja immer so im Stress ist". Kann das gut sein? Die digitale Gesellschaft ist eine grandiose. Kommunikation für alle. Grenzenlosigkeit. Die Welt in meinem Smartphone.

Aber die digitale Gesellschaft darf auch eine anständige sein. In der zivile Umgangsformen weiter gelten. Respekt. Empathie. Fairness. Jedenfalls eine Welt, in der sich Menschen bewusst entscheiden, Zeit füreinander zu investieren. Nicht nur für jene, die nicht mithalten können, einsam sind und besonders viel Zuneigung brauchen. Sondern auch für die, die wir vor lauter digitaler Globalität gelegentlich vergessen. Die eigene Familie.

An Weihnachten sollten wir ein Experiment starten. Handy weg! Und den abgewandelten Satz des österreichischen Philosophen Ludwig Wittgenstein ausleben: "Nimm dir Zeit!" Für das direkte Gespräch. Ganz analog. Starten wir etwa mit der Frage aller Fragen. Nur sollten wir sie ernst meinen und die Antwort abwarten: "Wie geht es dir?"

Ich wünsche Ihnen und Ihren Angehörigen ein gesegnetes Weihnachtsfest.

Michael Bröcker, Chefredakteur

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(brö)
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