Kolumne Gesellschaftskunde Warum es so schwer ist, in Balance zu leben

Vielen Menschen fällt es schwer, Leben und Arbeit in ein gutes Verhältnis zu bringen. Die Schuld sollten sie aber nicht nur bei sich suchen - sondern auch bei den Arbeitsbedingungen in vielen Unternehmen.

Ausgleich, Ausgewogenheit, Balance - diese Worte scheinen Balsam zu sein für die moderne Seele. Sie verheißen Harmonie, stellen dem modernen Menschen in Aussicht, widerstreitenden Ansprüchen zu genügen - und zwar gleichzeitig. Darum verwendet die Werbung die Begriffe so gern. Man liest sie auf Joghurtbechern und Müslikartons. Und wenn Menschen von dem erzählen, was sie beruflich so treiben, ist bald auch von der Work-Life-Balance, dem ausgewogenen Verhältnis zwischen Arbeit und Leben, die Rede.

Daran ist bemerkenswert, dass Arbeit und Leben noch immer als Gegensätze aufgefasst werden, obwohl die Grenzen in Wahrheit doch verschwimmen. Immer mehr Menschen streben nach Tätigkeiten, die ihnen einen hohen Grad an Selbstverwirklichung verheißen. Der Preis dafür ist jedoch, dass Arbeitszeiten nicht begrenzt, Überstunden nicht gezählt werden. Und weil das, wofür man Geld bekommt, so eng verknüpft ist mit der eigenen Identität, fällt es schwer, eine Grenze zwischen Arbeit und Leben zu ziehen. Im Traum von der Balance steckt also die Sehnsucht nach den simpleren Zeiten, als man Beruf und Freizeit noch klarer trennen konnte.

Wie beides in ein ausgewogenes Verhältnis zu bringen wäre, darüber werden Ratgeber geschrieben, Psychologen befragt. Und doch stöhnen viele, dass sie sich immer wieder vergeblich vornehmen, die Arbeit nicht zu weit ins Private wuchern zu lassen. Das hat mit dem Druck auf dem Arbeitsmarkt zu tun, mit der Angst, nicht als genügend leistungsbereit zu erscheinen, und mit gewandelten Vorstellungen alter Tugenden. Was früher Fleiß war, ist heute die Dauerbereitschaft, für die Arbeit dazusein.

"Das Denken unserer Zeit orientiert sich überall, auch wo nichts mehr zu machen ist, am Machen", schrieb der Philosoph Karl Jaspers. Tatsächlich glauben viele, sie müssten alles in ihrem Leben in die Hand nehmen, und dann laufen sie gegen Strukturen an, die sie gar nicht ändern können, verlieren all ihre Energie im Kampf gegen Bedingungen, die ihnen zu viel abverlangen.

Arbeit und Leben in Balance zu bringen, ist aber nicht nur die Aufgabe jedes Einzelnen. Wenn Menschen daran scheitern, müssen sie die Schuld nicht nur bei sich suchen - die Arbeitsbedingungen in vielen Unternehmen spielen auch eine Rolle.

Auch wenn die Werbung mit jedem Joghurtbecher die Balance zur Sache des Individuums erklärt - wie viel Ausgewogenheit wir uns leisten, ist eine Frage, die Wirtschaft und Gesellschaft beantworten müssen.

Ihre Meinung? Schreiben Sie unserer Autorin: kolumne@rheinische-post.de

(RP)
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