Berlin Warum Bilder anrühren und die Politik beeinflussen

Berlin · Das Bild vom kleinen syrischen Jungen tot am Strand hat Anfang September mehr bewirkt als jede Unterhausdebatte über die britische Flüchtlingspolitik: London erhöhte daraufhin die Aufnahmezahlen. Und auch die deutsche Debatte lief danach umso entschiedener in Richtung Willkommen. Warum haben Bilder solche Wirkungen? "Es gibt die Ur-Emotionen, die uns anrühren", erläutert Michael Ebert, Hochschullehrer für Bildjournalismus in Magdeburg.

Ebert sieht eine historische Parallele zwischen dem dreijährigen Aylan am Strand von Bodrum und drei US-Soldaten 1943 am Strand einer Pazifik-Insel. Es seien die ersten toten Marines für das amerikanische Publikum gewesen. Und auch durch sie kam der Tod nicht durch zerfetzte Körper in die Wohnungen, sondern durch ein scheinbar friedliches Bild mit der Anmutung von Schlaf. Doch aus der Körperhaltung wurde jedem klar, dass hier Furchtbares passiert ist.

Bei Aylan, so Ebert, komme noch die Kleidung hinzu, die nicht an Bürgerkrieg erinnere: "Der kleine Junge hätte auch gerade noch bei uns in der S-Bahn sitzen können, das bringt sein Schicksal uns ganz nah." Wie bei anderen Bild-Ikonen der Zeitgeschichte könne dieses Foto durch seine Anonymität zugleich stellvertretend für die gesamte Flüchtlingsdramatik stehen.

Mit Gesichtern, aber nicht weniger stellvertretend für großes Leid und große Emotionen: die beiden verzweifelt schreienden Kinder inmitten martialisch auftretender Polizisten an der griechisch-mazedonischen Grenze. Auch dieses Foto fand seinen Weg in zahlreiche Medien. Und das wird nach Eberts Beobachtung immer schwerer: "Während des Vietnam-Krieges konnten täglich zwölf Bilder aus Saigon geschickt werden, heute erreichen den ,Stern' täglich 10.000 Fotos allein von den Agenturdiensten - das ist keine Bilderflut mehr, das ist eine Bilder-Sintflut." Und doch gibt es Tage, da fliegen fast alle Redaktionen auf dasselbe Bild. Wie etwa beim G 7-Gipfel in Bayern, als die sonst langweiligen Konferenz-Bilder überlagert wurden von einem Schnappschuss eines US-Präsidenten in typisch-amerikanischer Lässigkeit mit einer Bundeskanzlerin vor Alpen-Panorama und ausgebreiteten Armen. Dennoch glaubt Ebert nicht, dass das Bild das Zeug zur Ikone hat.

Mitunter sind es auch viele verschiedene Bilder, die immer wieder anrühren. Babys genauso wie Katzen und selbst Faultiere. "Das wirkt herzerweichend, weil die Tiefenpsychologie mitspielt und unseren Beschützerinstinkt weckt", erklärt Ebert. Das "Kindchenschema": Angeborene Mechanismen zielen darauf ab, dass Menschen sich zur Art-erhaltung um Kinder kümmern.

Das Erzählen mit Bildern führt Ebert bis an die Anfänge der Menschheit zurück. "Seit den Höhlenmalereien wollen die Menschen ihr Leben, ihre Welt mit Bildern ausdrücken und zeigen, wo sie möglicherweise in Gefahr ist", schildert der Foto-Experte.

Darüber werde nicht zuletzt an den Schulen viel zu wenig geredet. "Schüler lernen das Alphabet, aber nicht, wie sie Bilder lesen", sagt Ebert bedauernd. Dabei gingen Bilder viel leichter als Texte "direkt ins Blut". Er verweist auf das bei Twitter gepostete Foto, das ein palästinensisches Mädchen zeigt, wie es auf brutale Weise von israelischen Soldaten weggeführt wird. Die Empörung sei gewollt, das Bild gefälscht gewesen - mit Hilfe von zwei als israelische Polizisten verkleideten Palästinensern. Davon gebe es viele weitere Beispiele.

Natürlich achtet der erfahrene Fotograf Ebert auch auf das technische Know-how. Aber manchmal wird das zur Nebensache, wie er anhand eines weiteren wichtigen Bildes von 2015 erläutert. Entstanden aus einem Handyvideo, als ein weißer Polizist in Charleston einem Schwarzen in den Rücken schießt. Ebert: "Ein banales, ein schlechtes Bild, aber ein sehr beeindruckendes, weil es den Beweis für verbrecherisches Handeln liefert."

(RP)
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