Frankfurt/M. Trauer um Marcel Reich-Ranicki

Frankfurt/M. · Einer der prägnantesten Deutschen, der Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki, ist gestern 93-jährig gestorben. Durch seine Autobiografie und durch die Sendung "Das Literarische Quartett" wurde er einem Millionenpublikum bekannt.

Im März dieses Jahres hatte Marcel Reich-Ranicki, seit Langem gesundheitlich angeschlagen, seine Krebserkrankung öffentlich gemacht, gestern ist er ihr im Alter von 93 Jahren erlegen – zwei Jahre nach dem Tod seiner Ehefrau Teofila. Reich-Ranicki, der Literaturkritiker, war zur Jahrhundertgestalt geworden, nachdem er 1999 seine Autobiografie "Mein Leben" publiziert hatte: ein Buch vom Schicksal eines Ehepaars, das das Warschauer Ghetto überlebt hatte und 1958 nach Deutschland zurückgekehrt war. In Polen als Sohn eines jüdischen Ehepaars zur Welt gekommen, war Marcel Reich-Ranicki in Berlin aufgewachsen.

Jahrzehntelang war Reich-Ranicki vor allem in Intellektuellenkreisen bekannt. Er verfasste Literaturkritiken zuerst für die "Zeit", dann für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung", deren Literaturressort er leitete. Eine klare Sprache und ein klares Urteil zeichneten ihn aus, dazu die Lust am Polarisieren und eine markante Aussprache, die ihn erst recht unverwechselbar machte, wenn er öffentlich auftrat. Das waren ideale Voraussetzungen für seine zweite Karriere, die Leitung der Fernsehsendung "Das Literarische Quartett" ab 1988. Unvergesslich sind seine Wortgefechte mit Hellmuth Karasek und Sigrid Löffler. Reich-Ranicki lobte Bücher entweder in den Himmel oder verriss sie. Das Publikum hatte seinen Spaß daran, und die Verlage profitierten von den Hymnen.

Parallel zum "Literarischen Quartett" schrieb Reich-Ranicki weiter Buchkritiken. Lob bekamen bei ihm vorzugsweise gut erzählte Romane der Amerikaner; mit experimenteller Literatur, gleich welcher Herkunft, tat er sich dagegen schwer. Sein Ziel war, für die Mehrheit der Leser zu schreiben. Dabei wies er immer wieder auch auf bedeutende Gestalten der deutschen Literaturgeschichte hin, ebenso auf seine großen Kritiker-Vorgänger, und gab eine mehrbändige Anthologie "Erzähler der 20. Jahrhunderts" heraus. Darin ließ er auch jüdische Autoren zu Wort kommen, deren Werke vom Nazi-Regime unterdrückt worden waren. Und bis zuletzt betreute er die "Frankfurter Anthologie", eine Reihe von Gedicht-Interpretationen in der "Frankfurter Allgemeinen". In der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" beantwortete er knapp, oft in barschem Ton, literarische Fragen von Lesern.

Auch die Großen des Literaturbetriebs bekamen Reich-Ranickis Rigorosität zu spüren. Er bezeichnete Günter Grass' Roman "Ein weites Feld" als "wertlose Prosa" und pflegte gegenüber Martin Walser nach anfänglicher Freundschaft eine jahrzehntelange Abneigung. Als Walser 2002 sein Buch "Tod eines Kritikers" veröffentlichte, sah Reich-Ranicki sich darin verunglimpft. Andere sahen das ebenso.

Reich-Ranicki wurde mit zahlreichen Ehrungen bedacht. 1990 bekam er die Heinrich-Heine-Gastprofessur an der Heine-Universität Düsseldorf.

Zahlreiche Repräsentanten des Staates und Freunde des Verstorbenen zeigten sich gestern tief betroffen. Bundespräsident Joachim Gauck erklärte: "Er, den die Deutschen einst aus ihrer Mitte vertrieben haben und vernichten wollten, besaß die Größe, ihnen nach der Barbarei neue Zugänge zu ihrer Kultur zu eröffnen." Bundeskanzlerin Angela Merkel äußerte sich so: "Er hat für viele erfahrbar gemacht, dass der Zauber von Literatur den Menschen ganz wesentlich ausmacht, dass die Literatur ihn im Extremfall sogar überleben lässt."

Thomas Gottschalk, mit dem Reich-Ranicki befreundet war, stellte fest: "Er hat für Deutschland mehr getan als die meisten Kultur-Politiker. Mit seinen Memoiren hat er uns nichts vergessen, aber vieles vergeben." Mit Gottschalk teilte er vor allem die Gabe, ein Publikum zu unterhalten. Auch als Entertainer wird er fehlen.

(RP)
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