Berlin Terrormiliz steuert Einzeltäter übers Internet

Berlin · Der Verfassungsschutz ist über die neue Entwicklung bei Anschlägen besorgt - und über die stetig wachsende Salafisten-Szene.

Nach Auswertung der 15 islamistischen Terroranschläge in Europa in den letzten zwei Jahren hat der Verfassungsschutz eine besorgniserregende Vernetzung aufgedeckt. Die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) hat demnach immer mehr Kontrolle über radikale und zu allem entschlossene Islamisten. Bislang gab es für die Terrorabwehr zwei verschiedene Szenarien: Einerseits die Bedrohung durch "Hit-Teams", also kleine, ausgebildete Gruppen von Terroristen, die gezielt zu Anschlägen eingeschleust werden. Andererseits die einsamen Täter, die relativ unprofessionell gewalttätig werden. Die Unterschiede schwinden: Auch bei Einzeltätern finde inzwischen eine "Beratung" oder Steuerung ihrer Handlungen durch den IS oder dem IS nahestehende Personen statt, lautet der jüngste Befund des Bundesamtes für Verfassungsschutz.

Dieser "neue Tätertypus" bereitet Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen wachsende Sorgen. Die Terroristen seien nur noch scheinbare Einzeltäter. "Diese Attentäter werden virtuell aus dem Ausland über Instant Messaging ferngesteuert", erläutert Maaßen. Das sind etwa Dienste wie Facebook, WhatsApp oder Telegram, bei denen Nachrichten direkt bei einem oder mehreren Teilnehmern einer geschlossenen Gruppe ankommen. Die Sicherheitsbehörden bekommen diese Kommunikation nur unter großen Problemen geknackt, seit die Dienste den gesamten Datenverkehr von einem Ende zum anderen verschlüsseln.

Nach Beobachtung der Verfassungsschützer spielen diese Internetdienste "als Bereitsteller der Kommunikationsinfrastruktur eine ausschlaggebende Rolle für die islamistische Szene in Deutschland". Auch die drei am Dienstag in Schleswig-Holstein und Niedersachsen gefassten Männer mit syrischen Pässen und Kontakten hatten vorinstallierte Kommunikationsprogramme auf ihren Handys. Sie waren nach Erkenntnissen der Ermittler durch dasselbe Schleusernetzwerk wie die Pariser Attentäter über die Balkan-Route nach Europa gelangt, hatten ihre Papiere aus derselben Werkstatt und wurden offenbar auch von einem IS-Spitzenfunktionär gesteuert, der möglicherweise auch bei den Attentaten von Paris federführend war. "Islamistische Terroristen setzen auf das Internet und die sozialen Medien als Werkzeug hybrider Kriegsführung", berichtet Maaßen.

Die Vernetzung liegt für die Sicherheitsbehörden inzwischen auf der Hand: "Komplexe Anschlagsvorhaben werden durch gut ausgerüstete und in mehreren mobilen Zellen agierende Attentäter durchgeführt", heißt es in einer Verfassungsschutz-Analyse. Und weiter: "Verschiedene Tätergruppen wie Schläferzellen, Rückkehrer und als Flüchtlinge eingeschleuste Dschihadisten agieren zusammen." Das Netz werde dabei zu verschiedenen Zwecken genutzt. Es sei eine "zentrale Plattform für Radikalisierung, Rekrutierung, Kommunikation und Steuerung von Dschihadisten sowie zur Planung und Vermarktung von Anschlägen."

Es gebe inzwischen sogar Netzwerke, die gezielt sowohl nach Ausreisewilligen als auch potenziellen Attentätern suchten. Diese würden über das Internet "individuell beraten" und erhielten "dezidierte Anleitungen und Vermittlung von Kontakten", hält die Analyse der Verfassungsschützer fest.

Die Bluttaten dieses Sommers sind offenbar nach diesem Muster verlaufen. Der Tunesier, der in Nizza 86 Menschen mit einem Laster tötete, der Afghane, der in Würzburg vier Menschen mit einer Axt schwer verletzte, der Syrer, der sich am Rande eines Festivals in Ansbach in die Luft sprengte - sie alle sollen Kontakte zum IS gehabt haben. Nach der Auswertung der näheren Umstände kam der Verfassungsschutz zur neuen These einer "Fernsteuerung".

Doch liefert Ansbach offenbar auch den Beleg für einen weiteren Trend. Es gehe nicht mehr nur um Nachahmungstaten, um das Werben für "15 minutes of fame, also eine Viertelstunde Ruhm, wie Maaßen feststellt. "Neu sind Aufrufe in sozialen Netzwerken zu Anschlägen, bei denen der Attentäter selbst unversehrt und unerkannt bleibt", erläuterte der Verfassungsschutz-Chef. Bereits kurz nach dem Anschlag war in Ansbach darüber spekuliert worden, dass die Explosion beim Abstellen des Rucksacks auch aus Versehen erfolgt sein und sowohl Täter wie IS den Tod des Attentäters nicht einkalkuliert haben könnten.

Vor diesem Hintergrund ist eine weitere Entwicklung um so prekärer: Nach neuesten Schätzungen hat sich die Salafisten-Szene in Deutschland erneut vergrößert: Von 8900 Angehörigen noch im Juni auf nun 9200. "Das vergrößert auch den Rekrutierungspool für Dschihadisten", so Maaßen.

(may-)
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